Normalzeit
: HELMUT HÖGE über die IFA

Auf Du und Du mit der Meinungsklimakatastrophe

Die hinteraktiven Medien, also die, bei denen hinter der Kamera mehr los ist als davor, sind derzeit Publikumsmagnet – auf der Internationalen Funk-Ausstellung. Dabei fällt auf, dass die IFA sich inzwischen zur größten Berliner Behindertenmesse gemausert hat: Nirgendwo sonst sieht man zwischen den Ständen so viele geistig und körperlich behinderte Menschen. Deswegen könnte man die Messe inzwischen auch „Prothetik 3000“ nennen, denn natürlich sind Radio, Fernsehen, Walkman, Handy, Plattenspieler, Ghettoblaster CD, DVD, ETC. in der Lage, einem zur Not eine andere Realität zu erschließen bzw. ein zusätzliches Fenster zur Welt zu öffnen, wenn einem gleichzeitig andere vor der Nase zugeschlagen werden. Theoretisch zumindest.

Am Rande des MDR-Messestandes trafen sich einige alte Piratenfunker – wie jedes Jahr, um die Weltlage wieder mal kurz Revue passieren zu lassen. Erst einmal mussten sie konstatieren, dass ihre Radio- und Printeinnahmen von der letzten bis zur diesjährigen IFA schon wieder gesunken waren. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass wir uns weiter von der Industrie- zur Mediengesellschaft entwickeln und infolgedessen nun vornehmlich die Einpassung und Proletarisierung der Künstler und Intellektuellen erfolge. Und zwar wissenschaftlich-technisch.

Was einst die Betriebsorganisation und das Fließband an disziplinierender Wirkung auf die Arbeiterklasse hatte, sind nun die Formate, Meinungs-Formierungen und -Performances, die immer kurzlebiger und dafür ständig retrocycelt werden. So sinkt die traditionelle Gilde der Sinngeber auf Faktenhuberei, ummantelt von Appeal und Appearance, und mit ihr das Gehalt. Wobei gesagt werden muss, dass die ersten Journalisten ähnlich wie die Privatdetektive kein höheres Lohnniveau als Facharbeiter hatten, das dann jedoch zusammen mit ihrem Image steil anstieg und erst jetzt sich dem Ausgangspunkt langsam wieder annähert. Ähnlich ist es bei den Architekten.

Gleichsam zur (korrumpierenden) Entschädigung werden – fast so wie in der alten Arbeiteraristokratie und im chinesischen Arbeitsplatzrecht – wieder Blutsverwandtschaften wirksam, das heißt, Modemacher-Söhne und -Töchter fangen als Models an, Journalistensprösslinge als taz-Praktikanten, die Kinder von Regisseuren halten ihrem Vater die Tonstange. Die Ostler unter den Funkpiraten mussten jedoch zugeben, dass die DDR-Intellektuellen vom Staat „gekauft“ wurden, wenn sie sich nicht gerade dissidentisch gerierten.

Im Kern lief das auf etwas Ähnliches wie den Transatlantikpakt in den Arbeitsverträgen des Springer Verlags hinaus. Man war sich jedoch einig, diesen nicht als Teil der US-„Verschwörung“ zu begreifen, wie sie auf der IFA an einigen Messeständen diskutiert wurde, wobei man sich pro und contra auf die beiden Autoren Broeckers und von Bülow bezog. Für die Funkpiraten handelte es sich bei der medialen Rezeption des 11.-September-Attentats und seiner globalen Folgen um eine „Meinungs-Paranoia“, an der die ganzen westlichen Intellektuellen und Medienverantwortlichen freiwillig teilhaben, so wie sie auch die systematische Umdeutung alles Sozialen auf sich nehmen, wobei schon jeder zahme Verteidiger von gewerkschaftlichen Rechten und staatlichen Hilfen oder sozialer Gerechtigkeit von ihnen zum Betonkopf oder Stalinisten gestempelt wird.

In Heidelberg sagte der Uni-Rektor auf der Gadamer-Ehrenfeier: Die schlimmsten Folgen von 68 seien noch immer nicht beseitigt. Und der Ministerpräsident Teufel meinte im Beisein des Festredners Jacques Derrida: Die Postmoderne würde bloß die Jugend verderben.