Von Wodka, Wurst und Dicken

„Die Dicken!“, stöhnt Marcin.„Ich kann das einfach nicht!Ich kann ihnen doch nicht anden Busen grabschen“

AUS KROSCIENKO GABRIELE LESSER

Kroscienko ist das letzte polnische Städtchen vor der Grenze zur Ukraine. Auf dem Bahnsteig warten die beiden Zöllner Marcin und Pawel auf den langsam einfahrenden Zug. Sie steigen ein: „Zollkontrolle. Guten Morgen. Haben Sie etwas zu verzollen?“ Unaufgefordert öffnen die Reisenden ihre Taschen und stehen auf. Sie kennen die Prozedur.

Mit geübtem Griff zieht Pawel die Sitze aus ihrer Verankerung, späht in den Hohlraum und klemmt sie wieder fest. Als er auf seine mitgebrachte kleine Leiter steigt und die Neonröhre an der Abteildecke abschraubt, fallen fünf Stangen Zigaretten heraus. Marcin wirft einen fragenden Blick auf die beiden älteren Männer und die blonde Frau im Abteil: „Wem gehören die?“ Die drei schweigen und blicken angestrengt aus dem Fenster. Marcin steckt die Zigaretten in einen schwarzen Plastiksack. Dann gehen er und Pawel weiter. Viel Arbeit haben sie nicht. Der kleine Grenzzug hat nur zwei Waggons.

Vor wenigen Wochen arbeiteten die beiden Zöllner noch an Polens Westgrenze. Mit dem EU-Beitritt Polens am 1. Mai fiel dort die Zollkontrolle weg, und tausende Beamte wurden in den Innendienst oder an die Ostgrenze versetzt. „Ich hatte überhaupt keine Wahl“, erzählt Marcin trocken. „Entweder das hier, oder ich wäre jetzt wahrscheinlich arbeitslos. Es war schon eine ziemliche Überraschung. Ich hatte zehn Tage Zeit, um mich zu entscheiden. Immerhin wohnt meine Freundin nur 200 Kilometer entfernt. Andere haben es jetzt 1.000 Kilometer weit bis nach Hause.“

Auch Pawel macht ein finsteres Gesicht. Seine Frau und die drei Kinder wohnen noch im schlesischen Kattowitz. „Hier gibt es nicht mal Kindergärten“, klagt er. „Wir Grenzer sind in der Schule untergebracht, wann wir Wohnungen bekommen, weiß niemand. Wie soll ich da meine Familie nachholen?“

Von ferne wehen Klänge griechischer Tanzmusik herüber. Pawel verdreht die Augen. Das alles ist zu viel für ihn. Er war bislang ganz auf den Westen fixiert, spricht neben Polnisch auch Englisch und Deutsch. In Deutschland, hinter der Grenze, hat er Freunde. Und jetzt sitzt er hier in Kroscienko, dem südöstlichsten Grenzstädtchen Polens, weit weg von der Familie. Als wären die Versetzung, die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Frau und Kindern nicht schon schlimm genug, wohnen hier auch noch Griechen. „Wohin hat es mich eigentlich verschlagen?“

Die Griechen sind kommunistische Partisanen, die im griechischen Bürgerkrieg 1946 nach Polen flüchteten. Knapp 3.000 von rund 40.000 Flüchtlingen landeten 1951 in Kroscienko. Zwar sprechen sie und ihre Kinder längst Polnisch, doch griechische Musik, Lammbraten und Ouzo gehören in Kroscienko ganz selbstverständlich zum Alltag.

Nicht weit vom winzigen Bahn-Grenzübergang wurde vor zwei Jahren das hochmoderne Grenzterminal Kroscienko–Smolnica für Pkws und Kleinlaster eröffnet. An den Kosten in Höhe von 30 Millionen Zloty (7,5 Millionen Euro) beteiligte sich die EU. Demnächst sollen hier auch Busse und Schwerlaster abgefertigt werden. Kroscienko, Medyka und Korczowa sind die drei modernsten Grenzübergänge Polens. Da am polnisch-ukrainischen Abschnitt der neuen EU-Außengrenze das Verkehrsaufkommen am höchsten ist, scheute Brüssel weder Kosten noch Mühe. Von fern wirken die technisch hochgerüsteten Glas- und Stahlgebilde wie Ufos auf einem Rübenacker. Das ist auch ihr Spitznahme bei den Einheimischen: Ufo. Sogar „kleine grüne Männchen“ gibt es. Die Zieloni sind die Zöllner in ihren dunkelgrünen Uniformen.

Der Bahnhof von Kroscienko stammt noch aus einer Zeit, als es hier noch keine Grenze ab. Marcin wirft noch einen Blick auf die beiden Uhren am Bahnhofsgebäude: Polen 7.18, Ukraine 8.18 Uhr. Die Ukraine hat immer eine Stunde Vorsprung. Pünktlich fährt der kleine gelb-grün gestrichene Zug ab und zuckelt durch eine einsame, fast menschenleere Gegend bis zur Endstation, dem ukrainischen Chyrow. Saftige grüne Wiesen wechseln mit Wäldern, hin und wieder sind grasende Kühe oder Schafe zu sehen, ein Bach, kaum Häuser.

Seit dem Zweiten Weltkrieg, als ukrainische Partisanen und polnische Widerstandskämpfer im Kampf um die Unabhängigkeit die Dörfer der jeweils anderen Seite überfielen und zerstörten, hat es kaum Neuansiedler in den Osten Polens gezogen. Der Aderlass war gewaltig. Tausende Menschen starben bei den Mord- und Vertreibungsaktionen. 1943 flohen 300.000 polnische Wolhyniensiedler vor den ukrainischen Partisanen ins Landesinnere Polens.

Als nach 1945 die Kämpfe anhielten, deportierte die kommunistische Regierung Polens kurzerhand 150.000 Ukrainer nach West- und Nordpolen in die ehemaligen deutschen Gebiete. Dann ließ sie fast alle ukrainischen Dörfer zerstören und niederbrennen. Über die Jahrzehnte ist hier wieder ein Naturparadies entstanden. Zurückgekehrt ist von den Vertriebenen kaum jemand. Wohin hätten sie auch gehen sollen? Bis heute gehören die Bieszczady, das polnisch-ukrainische Grenzgebiet, zu den am dünnsten besiedelten Regionen Polens. Auf einen Quadratkilometer kommen gerade mal 25 Menschen.

Auch Monika wurde von der West- an die Ostgrenze Polens versetzt. Sie hat heute Streifendienst, fährt mit ihrem Kollegen Marek über die Landstraßen und hält Reisebusse an. „Guten Morgen. Grenzschutz! Bitte alle aussteigen“. Leise fluchend schnappen die Reisenden ihre Taschen und Tüten. Sie werden heute schon zum zweiten Mal kontrolliert. Nachdem sie schon direkt an der Grenze gefilzt wurden, glaubten sie sich sicher. Die dort gerettete Schmuggelware liegt nun offen auf den Sitzen und in der Gepäckablage. Zigaretten und Wodka vor allem. Mit einer blauen Tüte voller Zigarettenstangen geht Monika nach vorne zur Tür: „Wem gehört die Tüte?“, ruft sie. Niemand meldet sich.

Das geht ein paarmal so. Marek stellt einen Reservekanister mit Wodka sicher. Schäferhund Aleks, der auf Drogen spezialisiert ist, beschnuppert intensiv einen alten Lederkoffer. Der Unmut der Reisenden wird immer größer. „Das ist so eine Erniedrigung“, sagt eine der Ukrainerinnen. „Wir wollen nur ein bisschen arbeiten in Polen, hier einkaufen und wieder zurückfahren. Wir müssen ja auch von irgendetwas leben. Und dann das! Sind wir etwa Verbrecher?“ Im Koffer war nichts Verdächtiges, nur ein paar Kilo Hartwurst. Als die Männer und Frauen endlich wieder einsteigen dürfen, zischen sie halblaut: „Diese Schwarzen! Der Teufel soll sie holen!“

Monika ist froh, dass die Kontrolle vorbei ist. Sie und Marek gehören zum „Mobilen Einsatzkommando“, das künftig überall im Lande Zollkontrollen durchführen wird. Als „Mobile“ tragen sie schwarze Uniformen. Erleichtert setzt sie sich ans Steuer. „Die Arbeit im Osten Polens ist ganz anders als im Westen“, berichtet sie. „Die Menschen hier sind härter. Aber ich kann sie verstehen. Sie sind arm. Was sollen sie machen außer schmuggeln?“ Aber es sei schon schwer zu ertragen, tagtäglich auf so viel Feindseligkeit zu stoßen.

Anders als ihre Kollegen aus dem Westen muss sie wenigstens nicht in einem umgebauten Schulzimmer hausen, sondern konnte bei ihrer Großmutter einziehen. „Das nennt man wohl Ironie des Schicksals. Meine Mutter ist vor über zwanzig Jahren nach Westpolen gezogen, wo es ihren Kindern einmal besser gehen sollte. Und jetzt bin ich ausgerechnet hier gelandet.“ Sie lacht. In zwei Jahren, so hofft sie, wird sie ihr Jura-Fernstudium abgeschlossen haben und hoffentlich wieder Richtung Westen versetzt.

Am Abend, Pawel und Marcin haben noch den Nachmittagszug von Chyrow nach Zagorze abgefertigt, treffen sie sich mit den anderen „Wessis“ in ihrer Stammkneipe. Marcin hat zwei wertvolle Ikonen beschlagnahmt. Er stöhnt: „Die Dicken! Ich kann das einfach nicht! Ich kann ihnen doch nicht an den Busen grabschen. Da muss eine Kollegin mit.“ Die „Dicken“ sind Schmugglerinnen, die bis zu drei Liter Wodka in Folienbeuteln direkt am Körper tragen – im BH, auf den Hüften, über dem Po. „Das waren mindestens hundert Dicke in diesem Zug, wenn nicht mehr. Wahrscheinlich wussten die, dass nur Pawel und ich Dienst schieben.“ Pawel nickt finster.

Er kann sich mit seinem neuen Einsatzort nicht abfinden. „Als ich noch in Swiecko stationiert war, hat mal jemand Instrumente für ein ganzes Orchester im Wagen gehabt und glatt gesagt ‚Eigenbedarf‘. Ich darauf: ‚Na, dann spielen Sie mal.‘ Und da hat er doch tatsächlich auf allen Instrumenten vorgespielt. Ein richtiges Konzert hat er gegeben. Da haben wir ihn ziehen lassen. Ein Professioneller war das!“

Er grinst für einen Moment. Im Westen war einfach alles besser, sogar die Schmuggler. Sie stoßen an, nicht mit Wodka oder Ouzo, sondern mit einem Pils, wie zu Hause. Und statt mit „na zdrowie“ prosten sie sich mit einem „do domu!“ – „nach Hause“ zu. Von ferne ist wieder die griechische Tanzmusik aus dem Dorf zu hören. Schön, aber fremd.