Der Methusalem-Komplex

Erfahrung mit Erfahrung bekämpfen: Die taz hat ein Traum-Team aufgestellt, mit der Werder Bremen heute Abend im Uefa-Cup beim AC Mailand bestehen kann ■ TEAMCHEF: RALF LORENZEN

Für Werder Bremen geht es heute in Mailand ums Ganze: Präsident Jürgen L. Born orakelte neulich, für den Uefa-Cup könne man sich ja auch im Uefa-Cup qualifizieren – er meinte: als Titelverteidiger. Dafür muss heute allerdings erstmal ein Sieg beim großen AC Milan her, der im Hinspiel in Bremen ein 1 : 1 erreicht hatte. Wie das gelang? Mit jeder Menge Erfahrung, von Spielern wie Inzaghi (35), Dida (35) oder Favalli (37). Auf der Bank saß für alle Fälle sogar noch Paolo Maldini (41) und strahlte jede Menge Ruhe auf den Platz aus. Werder sollte sich ein Beispiel nehmen und Erfahrung mit Erfahrung bekämpfen. Die Mannschaft müsste aus historischen Gründen natürlich ausnahmsweise von Otto Rehagel trainiert werden. Schließlich hat er einst Manni Burgsmüller erst im biblischen Alter von 35 Jahren nach Bremen geholt. Thomas Schaaf könnte mal einen Tag von der Trainerbürde entspannen – und, wenn er wollte, auf der Ersatzbank Platz nehmen.

AILTON, 35 – der verlorene Sohn

Hat in den letzten fünf Jahren in neun Städten bewiesen, dass er nur in einer vernünftig Fußball spielen kann. Schoss selbst im Trikot des HSV noch Werder Bremen in die Champions League, als er im Nordderby kurz vor Schluss das leere Tor nicht traf. Zuletzt hat er sich als Scout angeboten – würde wahrscheinlich auch als Bademeister im Stadionbad anheuern, nur um zurückkommen zu dürfen. Hat sich auf seiner Odyssee durch die Fremde ein entscheidendes Tor aufgespart: den Siegtreffer gegen den AC Mailand.

HARVARD FLO, 38 – Fußballgott

Der Überraschungscoup – den hat in Mailand niemand auf der Rechnung. Bis heute hält sich das Gerücht, er sei nur aufgrund einer Verwechslung mit einem seiner drei ebenfalls kickenden Cousins in Bremen gelandet. Spielerisch ist sein Mitwirken auch heute nicht unbedingt erforderlich – dafür könnte er für die magischen Momente und den göttlichen Beistand sorgen. Erzielte Ende der 90er Jahre in drei Spielzeiten als Stürmer fünf Bundesliga-Tore und wurde von den Bremer Fans als „Fußballgott“ gefeiert. Müsste fit sein, da er bis Ende letzen Jahres für Sogndal Fotbal in seiner norwegischen Heimat spielte.

WLADIMIR BESTSCHASTNICH, 34 – der Reisekader

Dem Wirbelwind aus Moskau ist keine Aufgabe zu abwegig – er will doch bloß spielen! Acht Jahre ist es her, dass er für Werder die Stiefel schnürte. Seitdem hat er jede Menge internationale Erfahrung gesammelt: in Santander, Moskau, Istanbul, Krasnodar, Orjol, Chimki, Tver und zuletzt in der kasachischen Hauptstadt Astana. Ob er vor zwei Monaten noch mal beim russischen Drittligisten Nischni Nowgorod anheuerte, ließ sich nicht klären. Jedenfalls steht er noch voll im Saft. Warum sollte den Mann ein Auftritt in Mailand schocken? Vielleicht gelingt ihm ja noch mal ein Treffer mit Ewigkeitswert, wie damals bei der EM 1996.

MARCO BODE, 39 – der Unvollendete

Die Chance für den Publikumsliebling, seiner viel zu früh beendeten Karriere noch ein Kapitel anzuhängen. Seit er nach der WM 2002 im besten Fußballer-Alter von 32 Jahren seinen Rücktritt erklärt hat, agiert er unter seinen Möglichkeiten. Als Tele-Trainer im Kinderkanal, als Plauderer im Bezahlfernsehen und als Gesellschafter einer Hamburger Werbeagentur. Könnte sich mit einem großen Auftritt in Mailand für die Nachfolge von Klaus Allofs in Stellung bringen. Mensch Marco, Fernseh- und Werbefuzzi, das ist doch nichts für Dich. Du gehörst auf die Außenbahn.

JOHAN MICOUD, 35 – der Existenzialist

Le Chef noch einmal im Werder-Trikot – die Bahn müsste sofort einen Sonderzug nach Mailand einsetzen. Brachte für vier Jahre mit Existenzialistenpulli und Weinkenner-Nase Eleganz, Esprit und die nötige Prise Arroganz in die Bremer Marschlandschaft. Eine Stunde untertauchen und dann aus dem Fußgelenk den tödlichen Pass spielen – das konnte nur der strenge Franzose. Auch 2002 stieß er verspätet nach einer Niederlagenserie zu den Bremern – und brachte sofort die Wende. Es muss ja nicht bei einem einmaligen Einsatz bleiben: Der Nachfolger von Diego könnte Micoud heißen. Im richtigen Alter ist er.

FRANK BAUMANN, 33 – der Phlegmatiker

Groß ist der Frust junger Mannschaften, die gegen die Alten Herren aus ihrem Verein antreten, und vergeblich hinter dem Ball her hecheln. Auf Seiten derer, die sich dann einen Ast ablachen, während sie sich die Kugel seelenruhig zuschieben, stehen meist zehn Frank Baumänner. Werders Sechser hat schon immer gespielt wie ein Alter. Mit Auge eben. Schon oft abgeschrieben, könnte der weithin unterschätzte Chef-Phlegmatiker in Mailand noch einmal ganz groß rauskommen. Die einzige Gefahr: Vielleicht sind die Mailänder einfach zu langsam für ihn.

ANDREE WIEDENER, 38 – der fünfte Terrier

Ein Spielertypus, der in Bremen immer höchste Anerkennung genoss und heute schmerzlich vermisst wird: der Terrier. Thomas Schaaf, der früher selbst einer war, bevorzugt als Trainer leider eher Bulldoggen wie Boenisch, Tosić und Prödl. Aber denen fehlen Biss und kalte Schnauze eines Johnny Otten oder Günter Hermann. Oder eben Andree Wiedener, der bis 2006 noch wenig beachtet bei Eintracht Frankfurt gespielt hat. Manche Leute vermisst man eben erst, wenn man sie sieben Jahre nicht mehr gesehen hat. Gegen den Oldie, der sich in verschiedenen Traditionsmannschaften fit hält, kann Kakà einpacken.

PER MERTESACKER, 24 – der früh Gereifte

Quoten-Jungspund für den gleichaltrigen Phillippe Senderos auf der Gegenseite. Agiert als 24-Jähriger schon so abgeklärt wie Paolo Maldini in seinen besten Jahren. Könnte in Mailand wichtige Zeichen für den Umbruch im Werder-Team setzen, den er als einzig verbliebener Führungsspieler einleiten muss. Ist außerdem unverzichtbar, wenn nach dem Spiel eine Niederlage erklärt werden muss. Der Grünschnabel wird nach Misserfolgen von seinen Kollegen stets vor die Mikros geschoben, weil er nicht nur angefangene Sätze unfallfrei beendet, sondern zu ehrlich klingender Selbstkritik fähig ist.

VALÉRIEN ISMAËL, 33 – der Traurige

Der Abgang aus Bremen hat ihm kein Glück gebracht. 2006 verletzte er sich im Bayern-Trikot so schwer, dass er in den folgenden eineinhalb Jahren auf zwei Einsatzminuten kam. Jetzt steht er bei Hannover 96 wegen einer erneuten Verletzung kurz davor, dem Spielerdasein Adieu zu sagen. So darf die Karriere des nach Rune Bratseth besten Werder-Verteidigers nicht enden! Mit einem Einsatz gegen den AC Mailand würde er in die grün-weißen Herzen heimkehren. Das verletzte Bein braucht er gegen das Mailänder Altherrenteam eh’ nicht zu belasten – bei Werder hat es immer genügt, dass er richtig stand.

PAUL STALTERI, 31der Dauerbrenner

„Egal, wer für die rechte Seite geholt wird – spielen tut Paul Stalteri.“ Seit dieses geflügelte Wort mitsamt seinem Protagonisten aus dem Bremer Fußball-Diskurs verschwunden ist, sind die Außenbahnen zum Notstandsgebiet der Werderaner geworden. Ein Flankengott ist der Vollgas-Kanadier auch nach der Rückkehr in die Bundesliga in seiner neuen Heimat Mönchengladbach nicht geworden. Aber in Bremen würde man sich dieser Tage ja schon über jemanden freuen, der den Ball zuverlässig an einen der besseren Flankengeber übergibt. Und wie nebenbei Ronaldinho keinen Stich lässt.

ANDREAS REINKE, 40 - das Pokerface

Kam 2003 mit seinem alten VW-Bus aus Murcia zu Werder und wurde zur tragenden Säule der Meistermannschaft. Immer etwas schnodderig, abgezockt bis unter die Handschuhe, mit dem Schuss Lockerheit, den an der Weser heute niemand mehr hat – für den Hexenkessel Meazza-Stadion genau der richtige Mann. Im Januar hat der 40-Jährige das Jahrzehnt betreten, in dem Torhüter erst die richtige Reife entfalten. Als Honorartrainer der U-21-Nationalmannschaft hält er sich fit. Sofort einsetzbar – fährt notfalls mit dem VW-Bus über den Brenner.