Unterwegs mit einer fliegenden Zahnbürste

Einmal mit einem Segelflugzeug abstürzen. Das kann durchaus passieren. Wenn auch nur ein einziges Mal

Das Fliegen lag uns allen im Blut. Mein Bruder flog mit jeder neuen Freundin aus der Kurve, und ich saß schon als Kleinkind im Hubschrauber. Irgendwann, als einer meiner Onkels zum Drachenflieger mutierte, wollte ich die Sache professionalisieren und kannte als alleiniges Ziel nur noch den Flugschein. Ich fuhr mit den schlimmsten Karussells, um meinen Magen für all die Loopings und Rollen abzuhärten, die ich über der Heimatstadt zu vollführen gedachte – nach Art des „Roten Barons“, versteht sich. Dann lud mich eine Bekannte meiner Mutter, bereits seit zehn Jahren in der Luft unterwegs, zum Mitflug im Vereins-Motorsegler ein.

Auf dem Startplatz bei Butzbach war Hochbetrieb. Blauer Himmel mit Cumuli und einer Thermik, die Wagemutige bis in die Stratosphäre tragen konnte. Die bereits aufgetankte Maschine wurde kurzerhand einem Vereins-Meier überlassen, der es eiliger hatte, sein sonnenbebrilltes Antlitz in Fixsternnähe zu heben. Sei’s drum, nahmen wir halt die nächste Mühle, ein rotes, schmales Rohr mit einer Plexiglasblase als Kabine, einem filigranen, einklappbaren Fahrwerk und einem winzigen Hilfsmotor. Flugs war der Semi-Segler aus dem Hangar geholt. Eine „Piper“ zog uns hoch, ließ sich abfallen, bis der Ring des Zugseils ausklinkte.

Überirdisch war er schon, der Flug, bei dem wir zig Kilometer über den Hochtaunus abdrifteten. Leider empfand ich die Enge in dieser fliegenden Zahnbürste etwas bedrückend. Die Plexiglashaube beschlug zu Anfang vom eigenen Atem, sodass ich ständig mit dem Handtuch gegen den Nebel ankämpfen musste. Da solche Flugstunden unglaublich teuer waren, bekam ich erste Zweifel an meinem Vorhaben. War die Ausbildung überhaupt erschwinglich? Bange Frage 500 Meter über dem Boden. Die Stratosphäre begann elf Kilometer über uns, als der rapide Höhenverlust zum Starten des Motors zwang. Über Wald ist kaum Auftrieb.

Die Zündung röchelte. Nichts tat sich. Beruhigendes Grinsen seitens der Chefin. Choke rein. Zündungsgezischel, aber kein Motorgeräusch. Stirnrunzeln. Unten ein endloses Waldgebiet. Flughöhe 400 Meter, Tendenz stürzend. Die Zündung versagte weiter, doch ich hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen und fühlte mich sehr leicht. Was für ein herrlicher Wald, um darin zu zerschellen. „Verflucht!“, kam der obersten Lenkerin die Einsicht. „Ich hab diese Ersatzmaschine vergessen aufzutanken!“ So weit war der Fall geklärt. Ein beruhigend einfaches menschliches Versagen, das keines weiteren Kommentars bedurfte. Ich überlegte, was ich noch gern überlegt hätte, aber die Zeit war dafür schlicht zu knapp. Also konzentrierte ich mich lieber auf den Aufprall. Noch 200 Meter. Vielleicht schon weniger.

Die Pilotin hatte indessen das Gelände mit Argusaugen sondiert und ein ackerbaulich genutztes Geviert inmitten der Waldfläche ausgemacht. „Da müssen wir runter! Ist die einzige Chance!“ Und als hätte sie ihr Leben mit nichts anderem verbracht, zog sie den sensiblen Segler in eine Haarnadelkurve über den rauschenden Baumkronen. Sie drückte den Steuerknüppel nach vorn. Wir stürzten der briefmarkengroßen Getreidefläche entgegen. Im letzten Moment zog sie das Steuer wieder zu sich. Weich landeten wir auf den Halmen, fast wie auf einer Bürste. Es ruckelte etwas, als der Glasfiberrumpf die harte Mittelgebirgsscholle touchierte. Dann vollführten wir eine volle Drehung und standen einsam in der Gerste. Grillen zirpten. Wäre nicht der zum Feld gehörige Bauer mit seinem roten Traktor gerade angetuckert, hätten wir Stunden gebraucht bis zur nächsten Menschensiedlung. Ich beobachtete gelangweilt große, flugunfähige, weiße Vögel, die in einen Bach getrieben wurden.

Stunden später kam das Vereins-Bergungsteam endlich zum Ort der Havarie. Der Segler wurde zerlegt und in einem länglichen Anhänger verfrachtet, den der übereifrige Fahrer mitten in die Agrarfläche gesteuert hatte. Statt Lob für ihre sensationelle Landung kassierte die Pilotin nur Vorwürfe. „Du hättest den Tank überprüfen müssen!“ Ich verabschiedete mich vom Flugschein – spätestens, als der Bauer schlau und genüsslich die Höhe seines Flurschadens bezifferte. Fliegerei? Zu viel Risiko, finanziell.

TOM WOLF