Supersenatorin ohne Superstarallüren

Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) macht nach ihren ersten 100 Tagen im Amt einen guten Eindruck. Sie hat mit Peter Strieders unbewältigten Hinterlassenschaften aufgeräumt und steht für einen klaren, sachlichen Politikstil. Schon nimmt man diesen in der SPD zum Vorbild

Zu der Frau mit harten Entscheidungen gehört auch eine weiche Seite Das gute Fazit ihrer Arbeit könnte sich auf die Personalpolitik des Senats auswirken

VON STEFAN ALBERTI

Martin Lindner, der FDP-Fraktionschef, meint es gar nicht nett: Ingeborg Junge-Reyer sei eine gute und freundliche Administratorin, die ihr Ressort gut kennt. Eine politische Führungsfigur, eine wirkliche Politikerin sei die neue Stadtentwicklungssenatorin allerdings nicht. Das stimmt, Gott sei Dank. Junge-Reyers erste 100 Tage im Amt haben gezeigt, dass sich die größte Senatsverwaltung, das Superressort, ohne die Supersenator-Allüren ihres zurückgetretenen Vorgängers führen lässt, des immer wieder als „Vollblutpolitiker“ bezeichneten Peter Strieder.

Die Fakten zuerst. Seit ihrer Wahl am 29. April hat sich in ihrem Ressort so viel bewegt wie zuvor in Jahren Strieder’scher Führung nicht. Zu viel, als dass es Zufall sein könnte. Da ist vor allem der beendete Dauerzoff um die Topographie des Terrors. Vier Wochen nach Junge-Reyers Wahl war der Zumthor-Entwurf vom Tisch. Das wundert manchen, weil sich erste Äußerungen nach ihrer Wahl anders deuten ließen. In jedem Fall ist Berlin ein Endlosthema los. Und nicht nur das. Die zuvor landeseigene Wohnungsbaugesellschaft GSW ist zu verträglichen Bedingungen verkauft. Unter den Linden fallen die Bäume nicht Prachtstraßenplänen zum Opfer. Die lang diskutierte Teufelsbergbebauung ist gekippt. Und das Schwinden der Hochhausvisionen für den Alex mag sie, anders als Strieder, nicht schönreden.

Die schnellen Entscheidungen und klaren Positionen werfen eine Frage auf: Wie konnte diese Frau mit offenbar ganz anderen Vorstellungen als Strieder zwei Jahre als Staatssekretärin dessen Politik ausführen?

Bei der Antwort hilft ein Blick auf ihren Werdegang: Junge-Reyer ist schlicht loyal, wenn es um SPD-Entscheidungen geht. Das war schon Ende der 1990er so. Da hätte sie eigentlich erste Wahl für den Senat sein müssen. Doch die Quote forderte eine Ostfrau. Statt die Brocken hinzuschmeißen, arbeitete Junge-Reyer unter ihr als Staatssekretärin. Das kann man sich verbiegen nennen. Oder einen langen Atem.

Junge-Reyer, 57 und gut 10 Jahre jünger aussehend, wirkt souverän, ohne herrisch zu sein. Sie kann den ausufernden und zunehmend nervigen Monolog eines Stararchitekten abkürzen, ohne ihn zu düpieren. Sie antwortet angenehm klar und präzise, statt längerer Statements abzugeben, zu denen ihr Vorgänger neigte. Anders als ihm liegt ihr am Detail.

In einer ihrer ersten Pressekonferenzen wusste sie zum Beispiel nicht, wie viele Ampeln es in Berlin gibt. Strieder hätte auf seine Pressesprecherin oder subalterne Stellen verwiesen – Kleinkram, nichts für ihn, den Supersenator. Junge-Reyer hingegen kramte nach der Konferenz in ihren Unterlagen, befragte Mitarbeiter und lieferte die Zahl selbst nach. Gut, das muss man nicht machen. Man kann es auch als mangelndes Delegieren auslegen – aber nur, wenn anderes darunter leiden würde, was bei ihr nicht der Fall ist.

Zu der Frau, die bereit ist, harte Entscheidungen zu treffen, gehört noch eine andere Seite. Eine weichere, die ebenfalls bei einer Pressekonferenz sichtbar wurde. Als PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf zu erklären versuchte, warum eine bestimmte Neuerung etwas länger dauerte, führte er dazu auch den Wechsel im ehemaligen Strieder-Ressort an. „Ganz im Gegenteil“, sprudelte die neben ihm sitzende Junge-Reyer los, dadurch sei es schneller gegangen. Offenbar wurde ihr erst nach diesen Worten klar, dass sie damit ihrem Vorgänger tüchtig einen eingeschenkt hatte. Junge-Reyer wurde knallrot wie eine höhere Tochter, die gerade eine Zote erzählt hat.

Dass aus ihrer eigenen Partei und vom Koalitionspartner PDS zum Start nichts Negatives über sie zu hören ist, überrascht nicht. Doch auch sonst hält sich die Kritik in Grenzen. Die Grünen halten ihr wie die Union zugute, mit Hinterlassenschaften von Strieder aufgeräumt zu haben. Für die CDU-Fraktion reicht das aber nicht: „Inhaltsleerer Aktionismus ersetzt keine politische Gestaltung.“

Grünen-Umweltexpertin Felicitas Kubala sieht zudem Schwächen in der Umwelt- und Verkehrspolitik. So setze sich Junge-Reyer dafür ein, dass die EU-Schadstoffgrenzwerte erhöht statt gesenkt würden. Das kritisiert auch der Bund für Umwelt- und Naturschutz.

Auch dass der Bundesnachrichtendienst ans Stadion der Weltjugend ziehen darf, wo autofreies Wohnen geplant war, kreiden die Grünen ihr an. Der Verkehrsclub Deutschland zeigt sich nach einem Treffen mit Junge-Reyer von ihrem Diskussionsstil und Auftreten, ihrer Fahrradpolitik, aber auch von ihrem „Mut zu Entscheidungen“ wie bei der Topographie angetan.

Das gute Fazit ihrer ersten 100 Tagen könnte Folgen haben. Es könnte Mut machen, auch bei der nächsten möglichen Vakanz nicht lange außerhalb Berlins zu suchen, sondern im eigenen Hause zuzugreifen: Aus der SPD werden Überlegungen kolportiert, den von einer Anklage in der Tempodrom-Affäre bedrohten Finanzsenator Thilo Sarrazin notfalls durch seinen Staatssekretär Hubert Schulte zu ersetzen. Angenehm zurückhaltend, dennoch souverän in der Politik, ohne pompöser Politiker zu sein. Eben wie Junge-Reyer.