Ein Orchester zum Anfassen

Der Klassik-Betrieb kämpft mit der sinkenden Zahl immer älterer Besucher. Die Hamburger Philharmoniker wollen nicht mehr aufs Publikum warten: Sie verlassen die Bühne und spielen an 50 Orten gleichzeitig

„Eine perfekte Sinfonie“, sagt die Dirigentin, „ist nicht Sinn der Sache“

Wer die Überalterung der Gesellschaft mit eigenen Augen sehen will, der geht am besten in ein klassisches Konzert oder in die Oper. Weiße Häupter in gedeckten Farben sind, sagen wir, in der Hamburger Laeiszhalle deutlich in der Überzahl, immerhin liegt das Durchschnittsalter im Publikum von Klassik-Konzerten bei 65 bis 75 Jahren. Tendenz steigend. Sogar die Liebhaber des deutschen Schlagers sind jünger, statistisch gesehen.

Laut einer Umfrage der ARD gehen heute noch sechs Prozent der Deutschen regelmäßig in klassische Konzerte. Für die Konzerthäuser zu wenig, um dauerhaft überleben zu können. Die Klassik-Szene braucht also dringend neue Zuhörer, will sie nicht vollends vergreisen und schließlich aus der Lebenswelt der Menschen verschwinden. Die Frage, die sich die Kulturschaffenden stellen, ist: Wie kriegen wir die Häuser wieder voll?

Denn es gibt sie theoretisch, die Klassikfreunde: 53 Prozent der Deutschen sind zumindest prinzipiell offen für Mozart, Mendelssohn und Tschaikowsky, das besagen Umfragen – und genau diese 53 Prozent gilt es zu gewinnen.

Mit einem ungewöhnlichen Freiluft-Versuch machen sich nun die Hamburger Philharmoniker auf die Suche nach ihrem Publikum: Am kommenden Montag verlassen die Angehörigen des ältesten der drei großen Hamburger Orchester mit ihren Instrumenten ihre Bühne und gehen auf die Straße. Dorthin also, wo sie die potentiellen neuen und jüngeren Hörer vermuten, die den Weg in einen Konzertsaal bisher nicht gefunden haben. Ab etwa 18.30 Uhr wird Hamburgs Generalmusikdirektorin Simone Young ihr über die halbe Stadt verteiltes Orchester dirigieren – vom 82 Meter hohen Turm des Michel, der Hauptkirche St. Michaelis, aus. Der Name des Ganzen: „100 Musiker, 50 Orte, 1 Konzert“.

Die Musiker werden unter anderem in der Fischauktionshalle (Violine), an der U-Bahn-Station Schlump (Trompete), im Millerntor-Stadion (Violine und Violoncello), im Museum für Völkerkunde (Tuba) und in diversen Privatwohnungen im Stadtteil St. Pauli sitzen und stehen; die Anweisungen ihrer Dirigentin verfolgen sie via Bildschirm. Über Lautsprecher werden die Freiluft-Solisten den Abend hindurch die Zweite Sinfonie von Johannes Brahms hören, damit sie nicht vollends auf die Kollegen aus dem Orchestergraben verzichten müssen, und dazu ihre eigene Stimme spielen.

Dieses Experiment überträgt sogar der ansonsten eher nicht von der Hochkultur geprägte Lokalfernsehsender Hamburg 1. Ausgedacht hat sich das um Aufmerksamkeit heischende Event die Hamburger Werbeagentur Jung von Matt: als neuen Verbreitungsweg für klassische Musik. Agentur-Geschäftsführer Götz Ulmer nannte seine Idee jüngst „das größte Konzert der Welt“ und den „besten Beweis dafür, wie unklassisch klassische Musik daherkommen kann“.

Dass das dezentrale Konzert eine Marketing-Idee ist, stört Orchesterchefin Simone Young nicht. Für sie ist entscheidend, dass sich die klassische Musik endlich einmal als lebendig statt immer nur verstaubt und altmodisch präsentieren kann. „Wir wollen die Begeisterung in der Stadt wecken, und alle Hamburger sollen erleben, dass wir ein Teil von ihnen sind“, sagt die Australierin, die seit 2005 Generalmusikdirektorin und Opernintendantin in Hamburg ist.

„Eine perfekte Sinfonie ist nicht der Sinn der Sache“, so Young. „Die Passanten sollen die Musik und vor allem die einzelnen Musiker direkt erleben.“ Als Orchester zum Anfassen gewissermaßen, im Gegensatz zu den normalerweise weit vom Zuhörer entfernten Musikern im Konzertsaal.

Später wird aus den 50 Einzelaufnahmen ebenso vieler Musiker an den verschiedenen Orten mit ihrer jeweils eigenen Akustik eine gemeinsame Sinfonie gemischt – inklusive Verkehrsrauschen, Schiffshörnern, vorbeiziehenden Passanten und ihren klirrenden Bierflaschen. Und vielleicht entdeckt wirklich jemand unter 65 seine Leidenschaft – für Brahms’ Zweite Sinfonie oder gleich für klassische Konzerte überhaupt. ILKA KREUTZTRÄGER

„100 Musiker, 50 Orte, 1 Konzert“: Montag, 2. März, ab 18.30 Uhr. Alle 50 Orte: www.philharmoniker-event.de