Gefühlte Geschichte

Nach Hause in die DDR: Mit der „Lilly unter den Linden“ von Anne C. Voorhoeve weiht das Gripstheater seine neue Spielstätte im Podewil ein. Das Stück erzählt eine umgekehrte Republikflucht und hat das Zeug zum Klassiker

Auch wenn seit Abschaffung der DDR viel Wasser die Spree hinabgeflossen ist, hat es immer noch beträchtliche Symbolkraft, wenn das Gripstheater ins ehemalige „Haus der Jungen Talente“ – jetzt Podewil – einzieht, um dort seine ständige zweite Spielstätte zu betreiben (siehe taz vom 19. 2.). Wie der Hansaplatz immer noch „Westen“ ist, so ist die Klosterstraße „Osten“, und dass die Grips-Macher den neuen Standort jenseits der verschwundenen Mauer mit einem Stück einweihen, das die Geschichte einer umgekehrten Republikflucht erzählt, treibt die Symbolik vollends auf die Spitze.

Diese deutliche Geste hätte auch ins peinlich Anbiedernde umschlagen können. Doch nichts dergleichen ist passiert. „Lilly unter den Linden“ hat ihren Einstand im Osten mit Bravour absolviert. Das Theaterstück von Anne C. Voorhoeve, entstanden nach dem gleichnamigen Roman der Autorin (der wiederum auf das Drehbuch zum gleichnamigen Film gefolgt war), spielt im Jahr 1988 und beginnt in Hamburg. Die dreizehnjährige Lilly ist Vollwaise, nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben ist. Die Mutter stammte aus Jena und hatte ihre Familie, nachdem sie noch vor Lillys Geburt illegal in den Westen gegangen war, nie mehr wiedergesehen. Auch Lilly kennt ihre Tante Lena, die ältere Schwester der Mutter, nur von Fotos und aus Erzählungen. Als Lena zur Beerdigung ihrer Schwester für einen Tag in den Westen reisen und Lilly treffen kann, hat das Mädchen das Gefühl, wieder eine Familie zu haben. Zu Weihnachten entwischt sie der Frau vom Jugendamt und macht rüber in den Osten – als Überraschungsgast und, wie sie hofft, für immer. Doch in Lenas Familie sind nicht alle begeistert. Und so nach und nach erfährt Lilly, dass die Mutter ihr nicht alles erzählt hat.

Für „Menschen ab 13“ gedacht, schafft Voorhoeves Stück, dramaturgisch komprimiert, das große Melodram der innerdeutschen Grenze, die für heutige Teenager nicht viel mehr ist als ein Kapitel im Geschichtsbuch, an einem schlichten menschlichen Anwendungsbeispiel lebendig zu machen. Ein Kind hat seine Eltern verloren und möchte nicht im Heim, sondern bei seinen nächsten Verwandten leben. Was könnte einfacher sein? Und was ist das für eine Welt, in der eine so einfache Sache für Lilly so schwergemacht wird?

Regisseur Philippe Besson und sein Ensemble transportieren die Geschichte ganz unbeschadet ins Heute. Tragische und komische Elemente halten sich souverän die Waage. Das Tragische bleibt dabei immer berührend, das Komische kippt nie ins Alberne, das eingestreute DDR-Vokabular wird mit hauchfein dosierter Ironie anzitiert. Das in seiner Mehrheit deutlich über dreizehn Jahre alte Premierenpublikum hat daran seine Freude und benimmt sich überhaupt vorbildlich. Es lacht bereitwillig, wenn es etwas zu lachen gibt, und hält den Atem an, wenn es ernst wird oder die Schauspieler zu singen beginnen, was leider nur zweimal vorkommt, denn auch das haben sie sehr schön eingeübt. Nur fünf Darsteller bestreiten sämtliche elf Rollen, drei von ihnen spielen also mehrere und erzielen Rekordzeiten beim Kostümwechsel.

Man möchte niemanden vor den anderen loben. Dafür möchte man allen wünschen, dass sich ihr jugendliches Aussehen lange erhalten möge. Denn wenn diese Inszenierung ein Klassiker wird, was gut vorstellbar ist, müssen sie womöglich noch einige Jahre lang auf der Bühne den Teenie geben. Hier im Haus der Jungen Talente, in der Mitte Berlins.

KATHARINA GRANZIN

Nächste Vorstellungen: Sa. 14. 3., So. 15. 3., Mo. 16. 3., jeweils 19.30 Uhr (14. und 16. 3. bereits ausverkauft)