Ein weißer Fleck im Eis

Spektakuläre Neuzugänge fürs Bremer Bohrkernlager erwartet: Eine Expedition in die Arktis soll klären, wann das Wasser am Nordpol gefror

Die entscheidende Frage ist, wann Krokodile am Nordpol lebten

Bremen/Tromsø taz ■ Zwei schwedische Eisbrecher haben gestern Nacht den Hafen von Tromsø verlassen. An Bord: Geologen, Meteorologen, Physiker – darunter auch drei Forscher der Uni-Bremen, ein Wissenschaftler des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts und taz-Fotograf Hannes von der Fecht.

Schon heute treffen sie, nahe Spitzbergen, auf die atombetriebene „Sovietsky Soyuz“. Dann ist die Crew der „Arctic Coring Expedition“ (Acex) komplett. Die drei Schiffe werden fortan in Kolonne fahren, immer weiter Richtung Nordpol. Bis auf 250 Kilometer wird sich ihm die kleine Flotte nähern – die Distanz von Hamburg nach Berlin.

Organisiert hat die Expedition das an der Bremer Universität angesiedelte Forschungszentrum Ozeanränder (RCOM) gemeinsam mit den staatlichen Geo-Instituten in Stockholm und London. Es ist erst die zweite Forschungsreise, die unter dem Dach des Integrierten Ozean-Bohrprogramms (IODP) in See sticht: Im vergangenen Herbst gegründet, bildet das IODP die internationale Plattform für technologisch aufwändige Forschungsprojekte in bislang unzugänglichen Ozeanregionen. Seitdem ihm das Europäische Ozean-Bohrprogramm (ECORD) im Mai 2004 beigetreten ist, sorgen 16 Staaten für die Finanzierung. Der Anteil Deutschlands im Jahr 2004: drei Millionen Euro.

Halt gemacht wird über dem so genannten Lomonosov-Rücken. Dieses Massiv teilt den arktischen Ozean in zwei Becken – rund 1.000 Meter unterm Meeresspiegel gelegen, tief unter dem so genannten „ewigen Eis“.

Aber mit dessen Ewigkeit ist das so eine Sache: In der kanadischen Arktis hat man versteinerte Krokodilreste gefunden. Ein eindeutiges Indiz, das besagt: In grauer Vorzeit muss es dort einmal recht warm gewesen sein.

Aber wann gefror das Wasser im äußersten Norden? Klar: In grauer Vorzeit ist keine wissenschaftlich exakte Zeitangabe. Den unersättlichen Forschern ist ja nicht einmal „vor 50 bis 56 Millionen Jahren“ genau genug: So viel weiß man heute schon. Doch in dieses Intervall fällt auch der Übergang von der Kreidezeit ins Eozän – es ist also „ein erdgeschichtlich entscheidender Zeitraum“, so Ursula Röhl, die im Bremer RCOM die Expedition betreut. Deshalb ist „das Alter die zentrale Frage“. Um es zu bestimmen, wird der Lomonosov-Rücken angebohrt, an drei Stellen – um Vergleichsdaten zu haben – und insgesamt bis zu 500 Meter tief. Dafür muss das Gerät mehr als 100-mal neu angesetzt werden. Denn pro Bohrgang kann es maximal 4,50 Meter an die Oberfläche befördern.

Generell lässt sich nirgends die Erdgeschichte besser lesen, als in den Ablagerungen am Grunde des Ozeans. Besonders günstig ist dafür jedoch genau dieses Unterseegebirge zwischen Kanada- und Nansen-Becken, so Röhl: „Der Lomonosov-Rücken hing früher an Europa dran.“

Die Lösung für die großen Rätsel der Geowissenschaften an den Extremitäten des Globus zu suchen – das ist seit der Aufklärung ein gängiger Ansatz: Fritjof Nansens Suche nach dem Weg zum Pol gehört ebenso in die Genealogie der aktuellen Expedition wie die von Pierre-Louis de Maupertuis 1736 geleitete internationale Akademiker-Reise, die nördlich des Polarkreises Newtons Theorie von den abgeflachten Polen der Erde bestätigte. Auch die Vorzugslage des Lomonosov-Rückens ist lange bekannt. Doch bislang war es technisch unmöglich, diese Stelle zu erforschen: „Es ist ein wirklich weißer Fleck“, so RCOM-Sprecher Albert Gerdes.

Die Schwierigkeit: Der 34 Meter hohe Bohrturm der „Vidar Viking“ kann nur zum Einsatz kommen, wenn das Schiff seine Position hält. Dann würde es aber im Polarmeer unweigerlich einfrieren. Deshalb müssen die anderen beiden Brecher in ihrer Nähe als Schutzschild operieren: Sie zerkleinern die Schollen und räumen sie aus dem Weg. Via Satellit wird die Crew ständig über das Wetter informiert.

Die Auswertung kann freilich nicht auf hoher See erfolgen: „Die Bohrkerne werden gewöhnlich in zwei Hälften zerteilt“, erläutert Ursula Röhl. Dafür werden die Sedimentstangen nach Bremen transportiert. Denn der ehemalige Schuppen 3 des Europahafens beherbergt seit zehn Jahren das einzige Bohrkernlager außerhalb der USA. Mit einer Science-Party wird man dort im November die Neuzugänge begrüßen. Und sich dann daran machen, das, was in ihnen aufbewahrt ist, zu entziffern: 50 Millionen Jahre Geschichte der Erde.

Benno Schirrmeister