Mehr Kratzen als Schürfen

Kleine Gesten inmitten eines darwinistischen Hier und Jetzt: „Der Sohn“, der jüngste Spielfilm der Gebrüder Dardenne, startet im Norden

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Geschmeidig wie eine Katze springt Olivier über gestapelte Tische und Bänke. Die Bewegungen wollen gar nicht recht passen zu seinem klobigen Körper und seiner Kurzsichtigkeit, die sich hinter einer dicken Brille verbirgt. Durch sie hindurch wirft er wieder und wieder seine Späherblicke: auf den Neuen in seiner Tischlerwerkstatt für straffällig gewordene Jungs. Wie gewohnt lassen die belgischen Autorenfilmer Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem jüngsten Film Der Sohn die Kamera Alain Marcoens los auf den Hauptdarsteller, und mit zahllosen Close-ups lauert sie noch den kleinsten Gesten auf. Olivier Gourmet stach mit seiner zurückhaltenden Interpretation dieser Rolle sogar Jack Nicholsons „Schmidt“ aus, als im vergangenen Jahr in Cannes der Darstellerpreis vergeben wurde.

Die Dardenne-Brüder drehten 20 Jahre lang Dokumentarfilme, bevor sie sich mit La Promesse, in dem Gourmet bereits eine tragende Rolle hatte, und Rosetta dem Spielfilm zuwandten. Ihr Kino ist das einer extremen Nähe von Kamera und Körper. Und doch: So sehr sie diesem auf die Pelle rückt, so wenig dringt sie in ihn. Keine der Einstellungen ist auf eine Psychologisierung aus, kaum einer der wenigen Schnitte verbindet zwei Einstellungen zu einem Sinn, der mehr wäre als die Kennzeichnung einer zeitlichen Abfolge. Wie seine Vorgänger heftet sich Der Sohn an die Oberfläche. Dort kratzt er mehr als er schürft, auf der Suche allerdings nach nichts Geringerem als der Conditio humana.

Der Neue in der Werkstatt hat als Elfjähriger Oliviers Sohn ermordet. Fünf Jahre später erinnert er anscheinend nicht einmal mehr den Namen des Opfers. Lange weiß er nicht, wer sein Meister ist. Dieser jedoch weiß um Oliviers Schuld. Der Film macht sich zum Komplizen von Oliviers Angst vor dem Namen des schmächtigen und blassen Teenagers: Er spricht ihn nicht ein einziges Mal aus. Wie beim Thriller gehen beim Zuschauer mit der Angst auch Schaulust und Neugierde einher. Seine Spannung verdankt der eigentlich unaufwändig konstruierte Film dieser Verdoppelung des Erzählprinzips des Thrillers.

Wie wird sich das Verhältnis der beiden entwickeln? Sinnt Olivier auf Rache? Was wird geschehen, wenn dem Jungen klar wird, wen er sich da als Vormund ausgesucht hat? Aber auch: Wie kann sich zwischen all den infernalisch lauten und gefährlichen Maschinen, zwischen schweren Holzbrettern und spitzen Werkzeugen die filmische Handlung so lange an kleinen Gesten festhalten? Wer noch dazu La Promesse und Rosetta kennt, wird von den ersten Bildern an eine Eruption archaischer Gefühle erwarten. Und wirklich, eine Fahrt der beiden zur Holzmühle, ein Wald und ordentlich viel Schlamm bringen sie an den Tag, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Wer auf der Suche nach einem überzeitlichen Guten im Menschen ist, das sich durch seine archaischen Züge immer wieder hindurchzukämpfen imstande ist, sitzt bei den Dardennes jedoch im falschen Film. Die darwinistischen Verhältnisse, in denen sie ihre Figuren ansiedeln, markieren sie stets als diejenigen, in denen wir hier und heute leben. War es in La Promesse die der Sklavenhaltung ähnliche Situation, in der viele illegale Flüchtlinge in Europa leben, so warfen sie mit Rosetta einen Blick auf die Kannibalisierung, die mit der heute allgegenwärtigen Drohung von Arbeitslosigkeit einhergeht. Der Sohn greift nun vielleicht ein Thema auf, das weniger häufig auf der Agenda engagierter Filmemacher steht. Aber ihrer Suche nach den Möglichkeiten von Einzelnen, der Wiederkehr totgeglaubter Lebensverhältnisse etwas entgegenzusetzen, sind sie treu geblieben.

bis 10.9. tägl. 20.30 Uhr, 3001-Kino, Schanzenstr. 75, Hamburg; ab 25.9. im Kommunalen Kino Kiel, Haßstr. 22