berliner szenen Zurück in die Kammer

„Guck dir den an, Mann“

Auf einer Holzbank am Zeppelinplatz sitzt ein dicker Mann und trinkt Bier. Es ist zwar schon 20 Uhr, aber immer noch sehr heiß. Zufrieden hält er sein Beck’s vor den nackten Bauch und lacht vor sich hin. Dann steht er plötzlich auf und pinkelt hinter der Parkbank in die Büsche. Er packt seine vor Bierflaschen klirrende Plastiktüte und geht.

Von rechts kommen jetzt junge türkische Frauen mit kleinen Kindern. Von links kommt ihnen ein betrunkener Handwerker im Zickzackgang entgegen. Er trägt eine Hornbrille und zieht gierig an einer Zigarre. Seine blaue Latzhose hat im Schritt einen großen Urinfleck, der sich an den Innenseite der Schenkel hinunterzieht.

Der freie Lektor, der nach zehnstündiger Arbeit im stickigen WG-Zimmer versucht, zur Abwechslung mal draußen weiterzulesen, fürchtet einen Moment lang, der Betrunkene könnte sich zu ihm auf die Bank setzen. Doch der torkelt weiter.

„Nur noch hundert Seiten, morgen muss das Manuskript zur Post!“, denkt der Berufsleser und stöhnt. Er versucht, sich weiter auf Leonardo da Vinci und seine heilige Anna Selbdritt zu konzentrieren. Denn davon ist im zu korrigierenden Text die Rede. Und von so genannten Shroudies. Das sind diejenigen, die beweisen wollen, dass das berühmte Turiner Grabtuch Jesu Christi echt sei. Dabei hat es, mutmaßt der Autor des Manuskripts, Leonardo gefälscht.

Doch schon kommen drei betrunkene Jungs des Wegs und setzen sich, hektisch mit den Wespen kämpfend, auf die Nebenbank, um Joints zu rauchen. Sie machen sich über den Berufsleser lustig: „Kiek dir den an, Mann!“ Also doch zurück in die Denkkammer. „Nur noch hundert Seiten!“, beruhigt sich der freie Lektor, „und das Bier steht ja schon kalt.“ JAN SÜSELBECK