Erdogan stellt sich den Menschenrechtlern

Auch auf der Tagesordnung des türkischen Ministerpräsidenten: „demokratische Standards auf höchstem Niveau“

Erdogan: Verstöße gegen Menschenrechte sind individuell – und nicht systematisch

BERLIN taz ■ Recep Tayyip Erdogan ist immer für eine Überraschung gut. Als erstaunlich offen beschrieb Wolfgang Grenz, Vizegeneralsekretär der deutschen Sektion von amnesty international, gestern Abend ein Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten. „Die türkische Seite hat ein wirkliches Interesse an der Arbeit deutscher Menschenrechtsorganisationen gezeigt und uns aufgefordert, in gemeinsamer Arbeit gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei vorzugehen“, sagte er.

Das Treffen – ein historisches Novum –, zu dem jeweils ein Vertreter von amnesty international, Pro Asyl, dem Forum Menschenrechte, der evangelischen Kirche sowie Pax Christi eingeladen worden war, soll auf eine Anregung des deutschen Botschafters in Ankara zurückgehen. In der vergangenen Woche beauftragte dann die türkische Botschaft ihre Vertretung in Berlin mit der Organisation. Diese ließ verlauten, sie sehe das Gespräch als einen ersten Schritt zu einem weiteren Dialog, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass es dabei „eher um pauschale Fragen und nicht um Details“ gehen solle.

Bei den Details wurde es auch diesmal schwierig. „Selbstverständlich haben wir darauf hingewiesen, dass es unserer Meinung nach in der praktischen Umsetzung des Reformprozesses immer noch erhebliche Mängel gibt“, sagte Grenz weiter. Denn noch immer würden Grundrechte verletzt und Menschen in Polizeigewahrsam gefoltert. Besonders in den vergangenen Monaten sei ein verstärkter Druck auf Menschenrechtsverteidiger festzustellen. Zudem häuften sich die Aussagen „Verschwundener“, die nach ihrem Wiederauftauchen von Entführungen durch Schwadrone oder Polizisten in Zivil sowie anschließenden Folterungen berichteten. „In dem Gespräch haben wir auch einige konkrete Fälle benannt und angeprochen“, sagte er. Darauf sei von türkischer Seite zurückhaltend reagiert und um Übersendung konkreter Unterlagen gebeten worden. „Dennoch glaube ich, dass ein erster Schritt für einen Dialog gemacht ist“, sagt Grenz weiter.

Das glaubt Erdogan wohl auch selbst. Bereits am Mittag hatte er in seinem Vortrag in der Friedrich-Ebert-Stiftung ausführlich auf die Frage Demokratie und Menschenrechte ein. Dabei waren für einen türkischen Ministerpräsidenten eher ungewöhnliche Sätze zu vernehmen. Zwar gebe es in der Türkei immer noch Verstöße gegen die Menschenrechte, räumte Erdogan ein. Diese seien jedoch individuell und nicht zwangsläufig auf Fehler im System zurückzuführen.

„Der Staat darf individuelle Rechte nicht verletzen. Nicht das Individuum muss dem Staat, sondern der Staat muss dem Individuum dienen.“ Die Türkei sei seit Jahren mit dem Problem von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert, was auch ihrer internationalen Reputation schade. „Wir wollen erreichen, dass das Thema Menschenrechte in der Türkei künftig nicht mehr auf der politischen Tagesordnung steht, und dass demokratische Standards auf höchstem Niveau verwirklicht werden.“ Erdogan verlieh seiner Erwartung Ausdruck, dass die Türkei spätestens 2004 Verhandlungen über einen Beitritt zur EU aufnehmen könne.

BARBARA OERTEL