Der Weltmeister kann noch mehr

Die Zuckerindustrie Brasiliens will weiter wachsen und die Produktion vervielfachen. Konkurrenz auf dem Weltmarkt fürchtet sie kaum

SÃO PAULO taz ■ „Im Zuckerexport liegt unsere Zukunft“, da ist sich João Carlos dos Reis sicher. Der Handelsdirektor der Andrade-Gruppe aus dem brasilianischen Bundesstaat São Paulo ist noch ganz erfüllt von der Eröffnung der nagelneuen Zuckerfabrik São José. Sie liegt in einem Meer von grünem Zuckerrohr bei Barretos, 400 Kilometer nordwestlich von São Paulo. Während der jetzt angelaufenen Erntesaison 2003/04 soll das voll automatisierte Werk 600.000 Tonnen Zuckerrohr zu 74.000 Tonnen Zucker verarbeiten, die bereits komplett an internationalen Börsen verkauft sind. „In ein paar Jahren können wir diese Menge vervierfachen“, schwärmt der Manager.

Die 42-jährige Firmengeschichte der Andrade-Gruppe spiegelt die jeweils herrschenden Trends der Branche wider: In den Sechziger- und Siebzigerjahren war der Zuckerrohrschnaps cachaça das Markenzeichen des Konzerns. Danach konzentrierte man sich auf die Produktion von Äthanol, dessen Nutzung als Treibstoff von den Technokraten des Militärregimes seit Mitte der Siebzigerjahre vorangetrieben wurde. Und nun möchte Andrade, die zu den 20 größten brasilianischen Firmen der Branche gehört, den Zuckerexport zu ihrem wichtigsten Standbein ausbauen.

„Der Weltmarkt ist für uns einfach sicherer und rentabler“, analysiert João Carlos dos Reis. Anders als in Brasilien gebe es keine „Liquiditätsprobleme“, zudem gehörten die üppigen Subventionen wie zu Hochzeiten des staatlichen Äthanolprogramms der Vergangenheit an. Mittelfristig seien „die Aussichten glänzend, denn bereits heute liegen die Produktionskosten in der EU mit 750 Dollar pro Tonne Zucker drei- bis viermal so hoch wie bei uns“. Zuckerweltmeister Brasilien produzierte 2001/02 knapp 23 Millionen Tonnen, 12,5 Millionen gingen davon in den Export. Dank ihres Subventionssystems lag die EU bei der Produktion mit 15 Millionen Tonnen hinter Indien auf Platz drei. Davon warf sie 1,4 Millionen Tonnen auf den Weltmarkt.

Wegen der europäischen Subventionen hat die brasilianische Regierung im Juli zusammen mit Australien und Thailand ein Schlichtungsverfahren bei der Welthandelsorganisation WTO beantragt. „Mit ihrer Überschussproduktion, die sie hoch subventioniert exportieren, machen die Europäer den Weltmarktpreis kaputt“, sagt Lino Colfera vom brasilianischen Verhandlungsteam. Zudem blockiere die EU die brasilianischen Importe mit Quoten und Zöllen.

Das Schlichtungsverfahren erschwere die WTO-Agrarverhandlungen, hieß es dazu aus Brüssel. Diese Argumentation wies Brasiliens Außenminister Celso Amorim als „paternalistisches Verhalten“ zurück, fairen Abkommen habe sich Brasilien nie verschlossen.

Mit Brasílias hartem Verhandlungskurs ist Andrade-Manager dos Reis hoch zufrieden. Er verweist darauf, dass die Zuckerbranche in Brasilien eine Million direkter Arbeitsplätze bereitstellt. Ihr Zuckerrohr bezieht die Firma je zur Hälfte aus eigenem Anbau und von 400 Zulieferbetrieben aus der Region, die den traditionellen Zuckerhochburgen im Nordosten längst den Rang abgelaufen hat.

Für ihre Knochenarbeit verdienen die Zuckerrohrschneider in der Region Barretos 100 bis 200 Euro im Monat – üblich ist das Akkordsystem. 3.500 von ihnen sind in der örtlichen Landarbeitergewerkschaft organisiert. „Viele sind aus den nordöstlichen Bundesstaaten hierher gezogen“, berichtet der Gewerkschafter Carlos Cesar Gonçalves, denn die Bezahlung sei immer noch besser als in ihrer Heimat, wo ein Tagelöhner weniger als 2 Euro erhält.

„Nach zehn Jahren im Zuckerrohrfeld ist die Gesundheit ruiniert“, sagt Gonçalves. Zudem setzten die Landbesitzer immer mehr auf Mechanisierung, in den kommenden Jahren würden zehntausende Jobs abgebaut. Kleinbauern seien in der Zuckerproduktion schlicht nicht konkurrenzfähig. Im dicht besiedelten Staat São Paulo führe die exportorientierte Monokultur in die Sackgasse, folgert Gonçalves und befürwortet stattdessen eine „umfassende Landreform“. Damit liegt er auf derselben Linie wie die Landlosenbewegung MST, die sich für den diversifizierten Anbau von Lebensmitteln für den Binnenmarkt stark macht.

Bestätigt wird der Gewerkschafter durch eine Studie der NGO Fian International über die zu erwartenden Auswirkungen einer Öffnung des EU-Zuckermarktes auf Brasilien. Durch eine Ausweitung der agroindustriellen Zuckerproduktion würden demnach – ähnlich wie schon durch den boomenden Sojaanbau – Kleinbauern vertrieben und das wertvolle Ökosystem Cerrado bedroht. Weder in Brasilien noch in Europa dürfe die Zuckerproblematik auf Handelsfragen reduziert werden, meint Koautor Klemens Laschefski. Doch gerade das droht im Rahmen der WTO-Konferenz.GERHARD DILGER