berliner szenen Tauben im Untergrund

Kampferprobt

Die Tauben, die sich in U-Bahnhöfen aufhalten, was machen sie nach Betriebsschluss? Wenn die Lichter ausgehen ? Ist ihre Sonne aus tausend Osram-Birnen? Wo schlafen sie? Kennen sie Ein- und Ausgänge? Bewegen sie sich frei in den Tunneln?

Wenn man sie so beobachtet, wie sie zwischen den Gleisen picken, in direkter Konkurrenz mit den Mäusen, oder aber auf den Bahnsteigen als allein Erntende – hat sich hier nicht ein evolutionärer Schritt vollzogen? Wachsen hier Tauben heran, oder kehren sie allmorgendlich wieder, gehen also gleichsam auf Maloche? Gibt es Generationen von Untergrundtauben, die in ein dunkles, doch brotkrumenreiches Leben führen? Die Untergrundtaube, der Vogel auf dem Schritt zur Zivilisation? Sind diese Tauben gar hart gesotten, kampferprobt und unerschrocken? Fleisch jedenfalls scheinen sie schon zu verzehren. Gehen sie bald auch auf die Jagd?

Wären Tauben Cineasten, hätten sie einen schönen schlechten Geschmack. Sie würden sich wohl mit Kurt Russell oder Brigitte Nielsen identifizieren, allein in einer wilden, gottlosen Welt, in der Todeszüge und Mördermenschen einem permanenten Schrecken aufzwingen. Einen Schrecken, dem man nur begegnen kann, indem man den Kitzel als Herausforderung begreift. Nun, Tauben sind keine Cineasten. Doch haben Sie schon einmal den Blick der U-Bahn-Tauben eingefangen? Von Angst keine Spur. Manche Taube pickt nach nichts und geht dennoch, aus keinem anderen Grund als der Mutprobe, zwischen den Menschen umher, als würde sie nicht wissen, welche Gefahr ihr droht. U-Bahnhöfe sind voll von Ozzy Osbornes, Taubenkopfabbeißern und Drauftretern. Die Tauben rührt es nicht. Sie sind nur noch cool. JÖRG SUNDERMEIER