Den Dingen auf die Spur kommen

Glühende Leidenschaft und ein kleines bisschen Aufklärung: Morgen beginnt das internationale Festival Tanz im August. Bettina Masuch, seit einem Jahr Kuratorin für Tanz am HAU, hat es mitgestaltet und sich gleich mehrere Träume erfüllt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Dem Generationskonflikt sei Dank. Die Eltern von Bettina Masuch (geboren 1964) hatten ein Abonnement für das Theater in Wuppertal und fanden Pina Bausch einfach grässlich. Die Tochter bekam ihre Karten, und das war ein Funke, der sofort zündete. Seitdem war Bettina Masuch, seit einem Jahr Kuratorin für Tanz am HAU und mit der Tanzwerkstatt verantwortlich für das Festival Tanz im August, nicht nur eine glühende Liebhaberin des Tanztheaters, sondern wollte vor allem immer wissen: Wie ist das gemacht? Wie kommen die Gedanken in die Körper? Welche Entscheidungen treffen Künstler? Warum berührt mich das eine so sehr und das andere nicht?

Dieses Jahr kommt Pina Bausch das erste Mal auf das Festival Tanz im August mit ihrem Stück „Nefés“, das in Istanbul entstanden und einem Lebensgefühl dieser Stadt gewidmet ist. Natürlich freut sich Bettina Masuch über diese Einladung besonders; nicht nur, weil Pina Bausch noch immer zu den bedeutendsten Choreografen der Gegenwart gehört, sondern auch, weil große Tanzensembles, deren Qualität auch in der Kontinuität ihrer Arbeit und dem Nebeneinander von Repertoire und neuen Stücken begründet liegt, eine Seltenheit geworden sind. Sie nach Berlin einzuladen, gelingt immer nur dann, wenn viele an einem Strang ziehen.

Das gilt auch für das zweite große Gastspiel des Festivals, die kanadische Fondation Jean-Pierre Perrault aus Montreal, die mit über dreißig Tänzern ins Haus der Festspiele kommen. „Ihr Stück ‚Joe‘ ist über zwanzig Jahre alt und wurde nach dem Tod des Choreografen wieder aufgenommen“, erzählt Bettina Masuch. „Interessant ist immer noch, wie er mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Masse umgeht. Es gibt keine Musik, die Tänzer werden nur durch die Kraft ihrer Schritte, den Rhythmus der Masse begleitet.“

Wir trafen uns im Juli, während der Theaterferien, in den Büroräumen des ehemaligen Theaters am Halleschen Ufer, jetzt das HAU II des seit einem Jahr neu strukturierten Theaterkomplexes Hebbel am Ufer. Ein Jahr lang hat Bettina Masuch jetzt neben Matthias Lilienthal in der künstlerischen Leitung gearbeitet. Der Rückblick auf die erste Spielzeit ist sehr befriedigend. Noch ist sie in der Lage, die vielen Begegnungen und Gespräche mit Choreografen als ein Privileg zu genießen und als eine stete Annäherung an den Kern dessen zu begreifen, was Tanz heute eigentlich ausmachen kann.

Wenn Bettina Masuch von ihrem Weg erzählt, seit dem Studium der Theaterwissenschaften in Gießen mit einer Abschlussarbeit über Pina Bausch und William Forsythe, dann tauchen überall Verbindungslinien auf zu dem, was sie heute macht. Als ob sie schon immer Mosaiksteine für das gesammelt hätte, was heute dem HAU sein Gesicht gibt. In Frankfurt hat sie als Dramaturgie-Assistentin bei Tom Stromberg am TAT die Internationalisierung des Theaters und Öffnung gegenüber der Performance miterlebt. Im Theaterhaus Jena konnte sie erste Reihen mit Tanzgastspielen und Gesprächen organisieren, für ein motiviertes Publikum einer kleinen, studentischen Stadt, in der das Publikum auch Sonntagvormittags noch diskussionsfreudig ist.

Der Suche danach, was die Kunst eigentlich ausmacht, wenn sie sich immer mehr gegenüber dem Außen und der Gegenwart öffnet, ist sie auch in einem Buch über die Bühnenbildnerin Anna Viebrock (erschienen 2002 im Alexander-Verlag) nachgegangen. Viele Wochenenden lang saß sie in deren Arbeitszimmer und redete über die dicken Arbeitsbücher, voll der visuellen Notizen für jede Produktion: „Erstens, weil ich Anna Viebrock sehr bewundere, und zweitens, weil mich seit meiner Studienzeit interessiert hat zu verfolgen, wie eine eigene künstlerische Handschrift entsteht. Von außen gesehen, wirkt das mysteriös; aus der Nähe betrachtet werden eine Fülle von kleinen Detailentscheidungen sichtbar, die zu verstörenden Ergebnissen führen. Ich finde es absolut faszinierend, wie Anna Viebrock durch die Welt zu gehen, Dinge zu fotografieren und sie dann so merkwürdig zusammenzusetzen. Wen man dem auf die Spur kommt, versteht man so viel mehr.“

In den letzten drei Jahren war Bettina Masuch Produktionsdramaturgin der Choreografin Meg Stuart, die bei Tanz im August zusammen mit Benoit Lachambre ein Stück zeigt. Dramaturgen beim Tanz sind noch selten – ein Beruf, der seine Aufgaben erst in der Auseinandersetzung mit Choreografen, Komponisten, Bühnenbildnern findet. Ein ständiges Anfüllen des Materialpools zu thematischen Feldern und Wiederausdünnen im Hinblick auf das Brauchbare und Formbare, so beginnt die Arbeit lange vor den Proben.

Zum Beispiel das Thema Gewalt für das Stück „Alibi“: Stoff hineinzugeben aus der Literaturgeschichte, dem Kino, dem Sport, theoretischen Diskursen wie Philosophie und Medizin war der Anfang; während der Proben zu beobachten, wie sich die Fragen präzisieren und einzelne Szenen entstehen, der nächste Schritt; zu reflektieren, wie daraus ein Spannungsbogen wachsen kann und dann wieder außen Position zu beziehen, um zu fragen, was sich vermittelt. Tatsächlich zeichnet die Stücke von Meg Stuart aus, über das Stadium der Materialcollage hinauszuwachsen und ein Thema mit einer ästhetischen Reflexion zu durchdringen, wie sie nur der Tanz und das Medium der Körper leisten können.

Entstehungsprozesse zu verfolgen und Kunst transparent werden zu lassen, das ist auch Bettina Masuchs Ziel am HAU. „Meine Idee war, einen Ort zu erfinden, an dem man Tanz sehen und sich gleichzeitig darüber auseinander setzen kann. Viele Choreografen wünschen sich eine größere inhaltliche Auseinandersetzung. Die Feuilletonplätze für Tanz werden immer weiter gestrichen und so wächst die Kluft zwischen dem Wissen des Fachpublikums und dem großen Kreis Tanzinteressierter. Ich glaube nicht, dass man Kunst erklären muss, aber dass man durch Vermittlung doch viel mehr eindringen kann und mehr davon hat.“ So ist das Konzept für Context entstanden, das zweite Festival neben Tanz im August, ein kleineres Format, das Künstlern und Publikum in vielen Gesprächen die Möglichkeit der Auseinandersetzung bietet.

Am Konzept für Tanz im August, das die Intendantin Nele Hertling lange erfolgreich leitete, wollte sie hingegen nichts ändern. Sie steht mit ihren Interessen Ulrike Becker und André Thériault von der Tanzwerkstatt, die das Festival seit jeher mitgetragen haben, jedoch so nahe, dass sie das Programm gemeinsam und nicht in zwei Schienen wie bisher geplant haben.

Zusammen hoffen sie nun, die Bestimmung dessen, was zeitgenössischer Tanz sein kann, wieder um ein paar Perspektiven zu erweitern. Ein Hauch von Aufklärungsarbeit liegt dann doch in dem Programm, denn wieder sind einige der Eingeladenen in Deutschland und Berlin ziemlich unbekannt, während sie in ihren Herkunftsländern ein großes Renommee genießen. Regine Chopinot etwa gilt als Grande dame des französischen Tanzes, Sarah Michelsen ist ein Star der unabhängigen Tanzszene in New York. Sie einzeln vorzustellen, wäre immer ein großes Risiko, aber im Rahmen von Tanz im August stehen die Chancen gut. Das Vertrauen des Publikums, das Nele Hertling über Jahre aufgebaut hat, will Bettina Masuch jedenfalls pflegen wie ein kostbares Kapital.