Die Rache des Oskar L.

Was ist nur mit Oskar los? (I): Mal angenommen, Oskar Lafontaine ginge es nicht um die Rettung des Sozialstaates – um was dann? Ein Erklärungsversuch des Psychoanalytikers Christian Schneider

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Vieles habe geschmerzt, verkündete der ehemalige SPD-Vorsitzende. Insbesondere, weil der innerparteiliche Konflikt so persönlich geworden sei. Doch jetzt gehe es um mehr, um Größeres als persönliche Kränkungen, es gehe um „die Sache“. Mit diesen Worten gab Rudolf Scharping 1995 das Amt an Oskar Lafontaine ab, der erfolgreich gegen ihn geputscht hatte.

Danach gab es wechselnde Führungskonstellationen in der SPD: eine „Troika“ von drei Ehrgeizigen, die, das Wort „Solidarität“ auf den Lippen, jeweils nur ein Ziel hatten: Erster zu sein. Und schließlich das unbezwingliche Duo. Oskar und Gerd, Gerd und Oskar: die zweieiigen politischen Zwillinge, mal mit, mal ohne Ehefrauen, mal vor der Saarschleife, mal Seit’ an Seit’ bei gedämpftem Licht und Hollywoodmusik in Säle einmarschierend.

Politisch schien das eine runde Sache, weil das große Paar das gesamte Spektrum der Partei abdeckte – und mediengerecht dazu: zwei Selbstdarsteller von hohen Graden, beide mit Talent zum populären, im Notfall populistischen Wort. Gut für „die Sache“, Kohl abzulösen und die neue Bundesrepublik neu zu gestalten. Dazu aber musste zunächst eine Wahl gewonnen werden. Die nach den Gesetzen der Mediendemokratie der für sich entscheidet, der im TV besser „rüberkommt“. Das war bei den Zwillingen ohne Frage Gerd, der Zweitgeborene. Oskar gab – im Interesse der Sache – sein Erstgeborenenrecht auf: Schwer für einen, der meint, intelligenter, sensibler und politisch weitsichtiger zu sein als „der andere“ – und zudem immer noch den letzten Fetzen des Mantels auf seinen Schultern fühlt, der einst den sozialdemokratischen Weltgeist kleidete.

Der Schritt, sich mit dieser Rolle des zweiten Manns zu begnügen, war die vielleicht letzte sachliche Entscheidung des Saarländers. Wahrscheinlich war sie verknüpft mit der entscheidenden Illusion, aus der sein heutiges Verhalten zu verstehen ist: die Illusion, nach gewonnener Wahl könne es tatsächlich eine „Doppelspitze“ geben, mit Gerd, dem Mann der Kameras und ihm, dem wirklichen Macher und Drahtzieher. Erstaunlich kurzsichtig für einen von Lafontaines Intelligenz und angesichts Schröders nicht gerade komplizierter Psychologie. Vielleicht hängt diese Kurzsichtigkeit – und das wäre wahrhaft tragisch – mit einer anderen, noch viel größeren Illusion zusammen: mit der Vorstellung, die „Inter-pares-Konstruktion“ könne auch „menschlich“ glücken. Ein veritabler Traum: Was könnte schöner sein, als die Macht zu genießen, ohne den bekannten Preis der Einsamkeit zu bezahlen? Aber dann begannen sie, die Spaltungen, Trennungen und Brüche.

Im Spiegel-Interview beklagt Lafontaine die vielen Wortbrüche Schröders: „Seitdem er zum Kanzlerkandidaten ausgerufen worden war, hielt er sich an keine Verabredung mehr. Insofern stand ich vor der Wahl, den Kanzler zu stürzen oder zu gehen.“ Was für eine Alternative! Müßig darüber zu spekulieren, ob Lafontaine damals die Macht gehabt hätte, den Kanzler zu stürzen, aufschlussreich aber sein Hinweis, dass Schröder am Tage seines Abgangs ebenfalls mit Rücktritt gedroht habe. Dann wären sie – wenigstens in der Fantasie – im Abtritt wieder ein Paar gewesen. Oder, besser noch, er, der Erstgeborene hätte danach den ihm zustehenden Platz eingenommen.

Dass es anders kam, schmerzt noch immer. Persönlich. Man merkt es Lafontaine an. Was immer er sachlich – und oft genug sachlich richtig – an der Regierung kritisiert, dahinter erscheint als überwertiges Motiv: Der Kanzlers muss gehen. Längst verfügt der verstoßene Zwilling nicht mehr über die Macht, „den anderen“ zu verdrängen, aber er gebärdet sich, als säße er gleichberechtigt am anderen Ende der Wippe; wie einer, der die Macht hat, sich schwer zu machen und „den anderen“ hilflos in der Luft baumeln zu lassen. Lafontaine erscheint in seinen öffentlichen Äußerungen als einer, der im unversöhnlichen Hass an ein Alter Ego gebunden ist und deshalb die Realitäten verzerrt. Er beklagt die Spaltung der Partei durch Schröder und Müntefering und sagt im selben Atemzug: Der Kanzler muss gehen – oder ich spalte die Partei. Zum Besten der Sache, für die Benachteiligten, na klar.

Tatsächlich, hier spricht im Namen der „Erniedrigten und Beleidigten“ einer, der einen ähnlichen Affekt zu verarbeiten hat. Lafontaines Rücktritt 1999 war nicht zuletzt Ausdruck einer schweren Kränkung – und der Versuch, weitere Kränkungen zu vermeiden. Die narzisstische Wunde, die er sich mit seinem Rückzug von der Macht selber geschlagen hat, ist nicht geschlossen. Solange es dabei bleibt, gerät jedes kritische Wort Lafontaines in die Gefahr, nicht der Sache, sondern der Rache zu dienen.