Irak vor der Entscheidungsschlacht

Die Regierung von Ajad Allawi, unterstützt vom US-Militär, will ein für alle Mal die Milizen des schiitischen Predigers Muktada Sadr niederkämpfen. Doch einfach ist das nicht. In der Stadt Nadschaf mit ihren schiitischen Heiligtümern droht der Showdown

AUS BAGDAD INGA ROGG

Es klang nach Verzweiflung: Über Lautsprecher riefen US-Soldaten gestern die Milizionäre des militanten schiitischen Predigers Muktada Sadr in der umkämpften irakischen Stadt Nadschaf dazu auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Doch diese denken nicht daran. Bis zum Letzten werden sie kämpfen, hatte tags zuvor Sadr erklärt: „Bis zum letzten Blutstropfen werde ich in Nadschaf bleiben und Widerstand leisten.“

Indem er die Grabmoschee von Imam Ali, einem der bedeutendsten Heiligtümer der Schiiten in der Welt, als Podium nutzte, unterstrich Sadr zugleich seinen Führungsanspruch über die Schiiten des Irak. Zugleich wies er in seiner Brandrede die Aufforderung des irakischen Interimspremiers Ajad Allawi an seine Kämpfer zurück, die Stadt zu verlassen und sich künftig als politische Partei an den für Januar geplanten Wahlen zu beteiligen. Dabei schraubte freilich auch Allawi die rhetorische Spirale weiter hoch: Er drohte, dass jeder Widerstand niedergeschmettert werde.

Für beide Seiten geht es in dem Konflikt derzeit um alles oder nichts. Allawi ist als der neue starke Mann im Irak angetreten, der dem Land endlich Sicherheit und Ordnung bringt. Doch davon ist das Zweistromland heute so weit entfernt wie zur Zeit der anglo-amerikanischen Besatzung. Im sunnitischen Kernland zwischen Bagdad und Ramadi geben weiterhin islamistische Extremisten und Untergrundgruppen aus dem Umfeld der ehemaligen Baath-Partei den Ton an. Kurdistan liegt gemäß der Übergangsverfassung weiterhin in den Händen der beiden großen kurdischen Parteien. Will die Regierung nicht gänzlich in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, muss sie zumindest in der Hauptstadt und den schiitischen Gebieten des Zentral- und Südirak die Kontrolle ausüben. Dem steht jedoch Sadr entgegen.

Trotz des im Juni verhandelten Waffenstillstands hat der schiitische Eiferer Moscheen und den Friedhof von Nadschaf, dessen Boden den Schiiten als besonders heilig gilt, zu Waffen- und Militärlagern ausgebaut. Wie schon während der Besatzung sucht Sadr sein Heil in der Konfrontation. Das bringt ihm zwar nicht unbedingt mehr Anhänger, zumal sich die Mehrheit der Iraker Frieden wünscht, stärkt aber unter den Verarmten und Benachteiligten, aus deren Kreisen seine Milizionäre stammen, sein Ansehen als Volksheld. Insofern ist Allawis Konfrontationskurs äußerst riskant.

Bei den jetzigen Auseinandersetzungen in Nadschaf und dem Bagdader Schiitenviertel Medina Sadr kämpfen irakische Truppen Seite an Seite mit US-amerikanischen Einheiten. Ausdrücklich hat die irakische Regierung die Unterstützung der multinationalen Truppen angefordert, die mittlerweile sogar auf den Friedhof von Nadschaf vorgedrungen sind. „Wir werden nicht zulassen, dass dieser heilige Ort weiter entheiligt wird und von den Aufständischen als Operationsbasis genutzt wird“, sagte gestern Oberst Anthony M. Haslam, Kommandeur der in Nadschaf eingesetzten Marines.

Unter den führenden schiitischen Geistlichen des Irak ist bislang Widerspruch gegen das Vorgehen der Regierung ausgeblieben. Großajatollah Ali Sistani weilt zu einer Herzbehandlung, wie es offiziell heißt, in London. Das gibt der Regierung Spielraum. Das könnte sich ändern, wenn sich die Kämpfe wie schon im April auf das sunnitische Kernland ausweiten. Mit gezielten Attacken auf Regierungseinrichtungen hat die Sadr-Miliz gestern deutlich gemacht, dass sie den Kampf ausweiten will. Im Mai und Juni mussten die Amerikaner am Ende in einen Waffenstillstand einwilligen. Das könnte auch Allawi blühen.