PETER UNFRIED ÜBER CHARTS
: Volle Dröhnung

Die Charts heute mit Django, Tante Gertraud, Lutz, Wolf Haas, Olli Schulz, Bibo, Ufo und Grobie

Wann immer ich keine Kohle habe, rufe ich meinen Sohn.

„Leih mir mal schnell 30 Euro, Django“, sage ich. Sofort rennt er brav zu seiner rosa Diddl-Maus-Schatulle. Da sind die vielen Scheine drin, die ihm seine Omas vorn und hinten reinschieben.

Schon ist er zurück und blättert mir arglos die Zehner hin.

„Mama hat sich heut’ auch schon 60 Euro geliehen“, sagt er beiläufig.

„Ach“, sage ich, „ist nicht wahr.“

Abends, wenn er endlich im Bett ist, schleichen wir uns aus der Wohnung raus und rüber ins Jolesch. Die 90 Euro reichen grade so für drei Gänge und eine Flasche Wein und sind meiner Meinung nach wirklich gut angelegt. Viel besser als für ein paar neue Kinderschuhe oder Bildung oder was sich die naiven Omis da so zusammenfantasieren.

Nein, nein, meine Frau und ich haben lange diskutiert und uns dann dazu entschlossen, uns der gesellschaftlichen Mehrheit anzuschließen. Wir leben bewusst auf Kosten der nachfolgenden Generationen. Und deshalb fairerweise ganz speziell auf Kosten unserer eigenen Kinder.

*

Das war jetzt ein bisschen dick, oder? Mit praller Moraldröhnung. Deshalb zur Entspannung eine Geschichte aus der Welt der 1. Klasse im ICE-Großraum. Eine mit Mobiltelefon in der Hauptrolle. Weiß schon, das dürfen eigentlich nur FAZ-Redakteure, weil die sonst nichts erleben. Aber was soll’s. Also, wir schreiben den 23. Dezember, es ist Abend geworden, das Abteil ist fast leer. Fast. Ich bin noch da. Mitten in Steely Dans „Hey Nineteen“ gibt der Akku des iPods auf. Fagen singt grade noch: „She thinks I’m crazy / But I’m just growing old“. Und dann: Aus. Von einer Sekunde auf die andere. Wie ein Leben. Ich bin also gezwungen, in den öffentlichen Raum zurückzukehren und damit in den privaten. Einer Mitreisenden. Ich sehe die Frau nicht, aber ich höre sie.

„Ich sitze im Zug, Tante Gertraud. Ach, geht schon, ich habe eine Bild-Zeitung. Vor Nürnberg. Ich fahr’ zu den Kindern, ja. Im Zug, zu Katrin und den Kindern, Tante Gertraud.

Tante Gertraud? Du warst plötzlich weg. Morgen Weihnachten mit den fünf Enkeln und den zwei Töchtern. Einfach wird es nicht. Ich darf mich vor unseren Töchtern auf keinen Fall gehen lassen.

Ja, meine liebe Gertraud, aber ich hätte doch einen Klaps gekriegt, wenn ich zu Hause gesessen wäre. Ich mache das im Sinne von Lutz.

Ich war heute noch bei Lutz. Dann im Pflegeheim bei der Schwägerin. Ich wollte euch nur schöne Tage wünschen, gute Fahrt für euch.

Was? Nein, ich will Silvester wieder zu Hause sein. Das war meine Bedingung. Ich hab’ gesagt, nein Katrin, das will ich nicht. Am 31. fahre ich zurück. Ich hab’ meine Platzkarte und alles.

Feiern ist zu viel gesagt. Ich habe keinen Grund zu feiern. Aber zu Hause ist mir der Lutz allgegenwärtig. Wie gesagt, alles Liebe für euch. Du hast das ja auch verkraftet, Tante Gertraud. Im Moment ist es noch zu frisch. Der Weihnachtsmarkt war sehr schwer. Jeder hat nach dem Lutz gefragt. Wo ist denn der Lutz? Wir haben das ja immer zusammen gemacht. Ich begreife es noch nicht, Tante Gertraud. Ich will’s auch nicht begreifen. Aber Lutz ist mir zu Hause näher als da draußen auf dem Friedhof.

Tschüß, meine liebe Gertraud, schöne Grüße an alle. Tschühüs.“ Was ich nicht begreife und auch nicht begreifen will: Warum schreit eine frischgebackene Witwe so durch ein Zugabteil? Ist das etwa auch im Sinne von Lutz?

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Die Charts im März:

Musik: „Mach den Bibo“: Olli Schulz. Eine Mischung aus ELO (Abteilung Rock-’n’-Roll-Imitat) und Trio-Lyrics („Bibo. Ufo. Grobie.“). Bei uns zu Hause machen jetzt alle den Bibo, das Ufo und den Grobie.

Buch: „Der Knochenmann“: Wolf Haas. Der Film ist gut, weil Hader. Und Minichmayr. Aber das Buch: Andere Klasse. So viel großartige Sätze, dass du sie dir gar nicht alle anstreichen kannst.

Fußball: Ba.

Und nächstes Mal: Was Professor Freise von Jo Nesbø hält.

PETER UNFRIEDCHARTS

Fragen zu Gertraud? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE