Tränen lügen doch

Die 200 Gewinnerfotos vom World Press Photo Award, des so genannten „Oscar der Fotografie“, stehen im Bremer Hauptbahnhof den hastigen Reisenden im Weg. Anregungen zum Nachdenken

Pressefotografie schreibt Zeitgeschichte: grell ästhetisierend

Frauen und Kinder zuerst. Und immer schön weinen. Das reicht einem Foto längst nicht mehr, um in die Zeitung zu kommen. Es sollte auch noch irgendwo eine verstümmelte Leiche herumliegen, das Blut in malerischem Rot farbliche Akzente setzen und mit leichter Bewegungsunschärfe alles enorm dynamisiert werden. Gegen die häufig behauptete Abstumpfung medial geschulter Sinne scheint die Pressefotografie mit immer noch schockierenderen und actionreicheren Mitteln anzuarbeiten, hält immer noch brutaler drauf, muss alles noch gezielter emotionalisieren.

Jedenfalls ist das der Eindruck, den die jährliche Stellwand-Präsentation der gemeinnützigen World Press Photo Foundation (WPPF) jetzt im Bremer Hauptbahnhof vermittelt. Gezeigt werden 200 Fotos von 62 Preisträgern in zehn Themenkategorien der WPPF-Awards. Sie werden von der gemeinnützigen, 1955 in den Niederlanden gegründeten Organisation gern als „Oscars der Fotografie“ bezeichnet. Eine Jury wählte die Gewinner unter 63.000 Einsendungen aus 124 Ländern aus.

Wenn man mal von einer durchschnittlichen Kameraverschlusszeit von 1/60 Sekunde ausgeht, ergeben die 200 ausgestellten Fotos gut 3,3 Sekunden, die vom Weltgeschehen 2003 übrig blieben. Ein repräsentatives Dokument? Über 90 Prozent der festgehaltenen Zeit des vergangenen Jahres erzählen von Leiden, Elend, Armut, Dreck, Tod, Gewalt. Eine Ausstellung, die man seinen Kindern nicht unbedingt empfehlen möchte. Sehen wir doch Menschen, die erschießen, foltern, enthaupten, sexuell missbrauchen – und Menschen, die erschossen, gefoltert, enthauptet, sexuell missbraucht werden. Und Menschen, die zum Gott erbarmen die Opfer beweinen, betrauern, die Ohnmacht ihres Schmerzes herausschreien. That’s life! That’s entertainment! Das Leben: ein Schlachthaus.

Die meisten Aufnahmen sind nicht dokumentarisch so dahingeknipst. Immer mehr Wert scheinen die Fotoredaktionen der Weltpresse auf Gestaltung des authentischen Eindrucks zu legen. Für Marie Claire wollte eine Fotografin Bilder über Selbstmordversuche afghanischer Frauen machen. Sie zeigt ein 15-jähriges Mädchen, das sich mit Kerosin übergossen und angezündet hat. Damit ihr Brandwundenkörper brandwundiger wirkt, wurde anscheinend ein Farbfilter verwendet. Muss zu einer immer grelleren Bildsprache gegriffen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden?

Oder das Bild eines liberischen Massengrabs: wir sehen Leichen mit friedlichem Gesichtsausdruck, ihre wunderschöne dunkelbraune Haut ist wunderschön bekrümelt mit wunderschön gelben Sandkristallen – ein wunderschönes Poster. Verschwindet der Inhalt, Bürgerkrieg in Liberia, hinter der Ästhetisierung?

Um den eindimensionalen Blick auf die globalen Katastrophen zu entgehen, werden neuerdings auch Aufnahmen der Kategorie Sport mit ausgezeichnet. Aber auch dort: ein Skiflieger stürzt sich die Knochen kaputt; beim Fußball sehen wir beinamputierte Bürgerkriegsverlierer aus Sierra Leone; dem Thema Polo geht man in 3.500 Meter Höhe des Himalaya nach, um ein elendig ersticktes Pferd zu zeigen. Und Bodybuilding wird mit einem querschnittgelähmten Muskelmann ins Bild gerückt.

Entdeckt wird nicht das Normale als das Besondere. Man sucht immer das Extreme. Auch bei den Porträts. Nicht Oma von nebenan lächelt ins Objektiv, sondern Latex-Fetischisten in vollem Ornat, Bondage-Fans, sauber eingewickelt in Frischhaltefolie, und auch ein begeisterter Windelträger mit Schrubber.

Anders schrill auch die prämierten Naturaufnahmen: unsäglich idyllisiert oder schmerzhaft bunt. Geo-Gucker lieben diese immer gleichen Inszenierungen völlig unterschiedlicher Weltgegenden.

Und was ist mit den formalen Trends, der Innovation, die WPPF verspricht? Fehlanzeige? Fast. Angenehm aus dem Konzept fällt Raúl Belinchón Hueso. Er stilisiert menschenleere Metro-Stationen zu abstrahierenden Farb- und Formenspielen.

Und es gibt Walter Schels. Während der Ausstellungseröffnung in Bremen erzählte er, zehn Jahre für die Zeitschrift eltern Neugeborene fotografiert zu haben. Die frisch geschlüpften Menschenknödel hätten immer ausgeschaut wie Greise. So ward der Wunsch geboren, auch einmal die greisen Greise abzulichten. In einem Hospiz schuf Schels eindrückliche Porträts – und suchte den charakteristischen Ausdruck nach dem Ableben der Bewohner erneut in ihren Gesichtern zu entdecken. Eine wirklich faszinierende Fotoserie, wie es nur noch drei weitere in der Awards-Ausstellung gibt. fis

bis 5. September