Village Voice
: So oder so ist das Leben, und Ulrike Haage plaudert dazu ein etwas arg schwelgerisch geratenes „Sélavy“

Ulrike Haage „Sélavy“ (Content/Edel)

Die Quelle der Inspiration sind sowieso immer die anderen. Was vorher gedacht und gemalt, was gedichtet und musiziert wurde. Und geschrieben. Im Info zum neuen Album von Ulrike Haage wird natürlich ihre einträglichste Station verwiesen, die Mitgliedschaft bei den Rainbirds, „eine der erfolgreichsten Popbands in Deutschland während der 80er und anklingenden 90er Jahre“. So steht es geschrieben: „Anklingend“. Dahinschwebende Poesie inmitten harter Prosa.

Anklingend: Genau so klingt „Sélavy“, das erste Soloalbum überhaupt der Jazzpreisträgerin 2003. Behutsam und distinguiert. Durchs Zimmer tänzelnd. Fein gehört und elegant eingerichtet, dass nebenbei auch der Eindruck bestätigt wird, den man schon als Vorurteil hegte: dass bei den Avantgarde-Projekten mit Ulrike Haage wie Vladimir Estragon doch die beteiligten Männer wie der Stimmimprovisator Phil Minton oder Ex-Neubauten-Perkussionist FM Einheit für das Schroffe, das auch an den Hörnerven sägend Harsche zuständig waren, während Ulrike Haage es lieber verbindlich hält.

Bei „Sélavy“ schmiegen sich die Stimme des Flügels und sachte Elektronik aneinander, ein Cello sorgt für das Elegische. Zarte Knackser sind über manche Titel gestreut, wie man sie vom Abspielen seiner Vinylplatten her kennt. Zu fein, um wirklich schon Störgeräusch zu sein. Eher liebevoll platzierte Garnitur. Wie die ein, zwei Schokostreusel auf dem Tortenstück. Was zuerst nur sagen will, dass Ulrike Haage nicht dick aufträgt, sondern eben behutsam an die Sache geht. An den Feinheiten des Klangs ist sie interessiert. Wie etwa der Ton im Holz des Klaviers mitschwingt. Eine unaufgeregte, nie auf Virtuosität zielende Klavierspielerin auch, der mit „Mr Lennie Tristano“ eine schöne Hommage an den Jazzpianisten gelungen ist, das musikalische Herz der Sache treffend, mit den Anklängen an europäische Kunstmusik und dem coolen Jazz. Auch mit der stolzen Stiernackigkeit an den Tasten.

Andere Titel des Albums aber könnten gut als die akustischen Bildschirmschoner durchgehen, bei denen im Fernsehen zur allgemeinen Besinnlichkeit Segelflieger durch die Lüfte gleiten. Im Ansatz ein wenig schwülstig und bestimmt schwelgerisch. Stimmungsverstärkt. Wie Filmmusiken argumentieren (Hörspiele sind ein Arbeitsschwerpunkt Haages): große melodische Gesten und darunter gelegt die an Minimal-Music geschulte Rhythmisierung. Die Zäsuren und Dramatisierungen. Dieser Duktus.

Und während man so auf den impressionistisch aufgepolsterten Wattebäuschen von „Sélavy“ dahintreibt, kommen auch die Gedanken ins Gleiten. Soll man das jetzt als milden, nachgezuckerten Jazzrock hören oder als sanft pluckernde Loungemusik mit Alleinunterhalter am Klavier, was gutwillig als strategische Neubelebung der Easy-Listening-Klaviermusik aus den frühen 60ern betrachtet werden könnte? Oder hört man als Mensch mit bösem Herzen einen Richard Clayderman, der sich in den Partituren eines Michael Nyman verirrt hat? Auf jeden Fall zu viel Kerzenkandelaber hier im Klavierzimmer. THOMAS MAUCH