zwischen den rillen
: 33 Akkorde und eine Lüge

Lange Jahre galt diese Musik als stilistischer Sondermüll. Doch nun zelebrieren mehrere neue Platten die Rückkehr des Progrock

Pop im Jahr 2004, das ist ein Tanz auf der postmodernen Müllhalde der Musikgeschichte. Keine stilistische Verirrung könnte zu abseitig sein, um nicht als Zitat eine Renaissance zu erfahren, notfalls überzuckert mit Ironie. Es gibt kaum ein Genre, das nicht der schleichenden Verwesung entrissen und dem aktuellen Geschehen zugeführt werden könnte. Mit einer einzigen Ausnahme: Progrock. Diese progressive, demonstrativ anspruchsvolle und allzu oft kapriziöse Spielart der Rock galt mehr als 25 Jahre lang als stilistischer Sondermüll.

Was ist nach 1979 bloß passiert mit den schillernden Luftblasen von Yes, den gymnasialen Verrenkungen von Genesis, den pathetischen Luftschlössern von Pink Floyd? Sie wurden vom Punk nicht nur abgelöst, sondern vernichtet. Musica non grata. Vorbei waren die Zeiten, da sich die Qualität eines Songs an der Zahl der vertrackten Rhythmuswechsel der Musiker bemessen ließ und der esoterische Quark nur so aus den Textzeilen tropfte. Progrock? 33 Akkorde und eine Lüge.

Die zaghafte Annäherung einer neuen Generation von Musikern an die metastierenden Auswüchse der Siebzigerjahre kündigte sich schon vor Jahren an. Nur vereinzelt zuerst, etwa bei den kalifornischen Grandaddy, die verstohlen den Pop-Appeal von E.L.O. für neue Hörer übersetzten. Eines der wichtigsten Attribute des Prog, das masturbierend mäandernde E-Gitarren-Solo, kam in den vergangenen Jahren wieder durch die Hintertür geschlichen: Nicht prächtig produziert, sondern versehrt – eben wie etwas, das in den langen Jahren auf dem Müll sein Pathos gegen eine charmante Patina eingetauscht hat.

Nicht nur notorische Sünder wie The Mars Volta, Badly Drawn Boy, Flaming Lips, Archive oder die Scissor Sisters bedienen sich inzwischen recht schamlos der Ikonografie des einst verpönten Genres – nun kommt es besonders dicke, nämlich aus unerwarteter Richtung.

Die Fiery Furnaces, ein wegen ihrer Liebe zum Talking-Blues gerne mit den White Stripes verglichenes Geschwisterpaar aus Brooklyn, überraschen nach ihrem eher spröden Debüt mit einer lupenreinen Progplatte, aus der kaum ein Lied unter sieben Minuten zu finden ist. Der Trick ist dabei ganz einfach: Was auf „Gallowsbird’s Bark“ noch vereinzelte Songskizzen waren, das wird auf „Blueberry Boat“ fast schon gewaltsam zu ellenlangen Epen verknüpft. Instrumente und Stimmen meditieren abwechselnd und sprunghaft über musikalischen Themen, ohne sich um ideologische Altlasten zu kümmern – keine zwingende Dramaturgie, keine jenseitigen Texte: „My Dog Was Lost But Now He’s Found“, it’s as simple as that.

Sufjan Stevens, ein junger Songwriter aus Michigan, lässt das Konzeptalbum wieder auferstehen – mit zarten Geschichten über die Menschen in „Michigan“, erzählt zu Oboen, Glockenspiel und Mandoline, als würde Philipp Glass Pate stehen. Stevens plant, jedem einzelnen Bundesstaat der USA ein eigenes Album zu widmen. Da ist er wieder, der Größenwahn des Prog, in dem das Scheitern schon angelegt ist. Und doch klingt es berückend, als wäre es nicht von dieser Welt.

Sogar aus Omaha, vom erdigen In-Label Saddle Creek, sind inzwischen komplexere Klänge zu hören: „Album Of The Year“ erzählt mit einer dermaßen glaubwürdigen Intensität von – genau! – Beziehungsproblemen, dass es sich selbst so ausgeleierter Stilmittel wie des des Crescendos bedienen kann, ohne peinlich oder bemüht zu wirken. Wer glaubt, die Rückkehr zur Komplexität sei nur vorübergehend wie ein Sommerschnupfen, der sei gewarnt: Wunderkind Adam Green, bisher ein Meister des lakonischen Zwei-Minuten-Songs, croont sich auf seinem kommenden Album mit dekadentem Vergnügen durch mehrteilige, durchnummerierte Suiten. Sieht ganz nach Grippe aus.

ARNO FRANK

Fiery Funaces: „Blueberry Boat“ (Rough Trade), Sufjan Stevens: „Michigan“, (Rough Trade), The Good Life: „Album Of The Year“ (Saddle Creek/Indigo)