Bremens große Konzertlotterie

Jeder ist seines Konzertabends Schmied: Bei der Eröffnung des Musikfests gab’s am Samstag die bunte Mischung für alle – in 24 Auftritten verteilt über 8 Aufführungsorte in der City und mit sehr viel Trubel auf dem im Stile der 30er-Jahre ganz kolossal angestrahlten Marktplatz

Bei freier Kombinierbarkeit wären es jedenfalls 512. Das ist logisch: Jeder darf mit drei aus 24 angebotenen Konzerten sein Individual-Programm zusammen stellen. Acht locations, das ist die Basis, drei Zeitstaffeln die Potenz. Jetzt aber die Frage für höhere Schüler: Wie stark reduziert sich die Auswahl dadurch, dass mindestens eine Aufführung in Glocke oder Dom zu besuchen ist und keiner den Musikfestpremieren-Abend nur an einem Ort verbringen darf?

Gar nicht so einfach.Beim Gang über den im Stile der guten alten 30er-Jahre erleuchteten Marktplatz – oh, sieh da! mystisch umglänzt das blaue Licht die Backsteinbauten und kerndeutsch ragt der von unten bestrahlte Roland aus der Masse – bleibt jedoch genügend Zeit, die Lösung zu finden. Die Wahlfreiheit reicht jedenfalls allemal dafür aus, sich einen Abend lang wie ein Festspiel-Intendant zu fühlen: Wer ein reines Barock-Programm wünscht, kommt auf seine Kosten, wer’s bunt gemixt und am liebsten gecrossovert mag, ohnehin.

Und, aufgemerkt!, sogar Freunde der Neutöner können hier ein Rosinchen entdecken: Paul Hillier führt mit dem Estonian Philharmonic Chamber Choir keck zu nächtlicher Stunde E-Musik von Komponisten auf, die teilweise sogar noch leben: Norgard, Pärt und Schnittke.

Die auf dem Markt deponierten Flak-Scheinwerfer scheinen den Himmel abzusuchen, aber Tiefflieger zeigen sich nicht, und in Wirklichkeit sind die weißen Lichtbündel natürlich dafür da, kolossale Formen in die Nachtschwärze zu zeichnen: Sie kreuzen und überschneiden einander, mal weit oben, mal tiefer unten. Der Marktplatz ist stellenweise heller und überall voller als tags. Zaghaft bimmelnd bahnt sich die Tram Richtung Gröpelingen den Weg. Ab Obernstraße kann der Fahrer wieder beschleunigen: Eine unsichtbare, aber scharfe Grenze teilt Menge und leere Straßenflucht.

Ein bisschen ist es so, als stünde man vor dem eigenen, gut sortierten CD-Regal: Was hören wir denn mal heute Abend?, fragt sich der Snob und wählt erst mal ein paar Takte Jazz zum Einschwingen. Die International Vamp Band ist musikalisch sicher nicht richtungsweisend, aber technisch perfekt. Die Sets plätschern angenehm routiniert dahin, im Innenhof des Bremer Gerichtshauses, irgendwann ist Schluss – auch gut. Man hätte aber wohl auch noch stundenlang zugehört. Im Anschluss vielleicht den zweiten Teil von Monteverdis Marienvesper? Das wäre doch ein allzu heftiger Kontrast. Also das Florilegium: So frisch wie die muss man Telemann erst einmal spielen können. Und außerdem ist im Rathaus gerade Senatsempfang. Da kann man mit etwas Glück ein Gratisglas Schampus abgreifen.

Wem der Abend nicht gelungen ist, der muss die Schuld bei sich selbst suchen: Durch die Gegend laufen, prima Musik hier, ein tolles Kleinkonzert dort, das ist vielleicht belanglos, aber doch angenehm. Und zum Schluss gibt es sogar ein richtiges Experiment: Sir Roger Norrington dirigiert das erstmals aus Mitgliedern des Chamber Orchestra of Europe und der Deutschen Kammerphilharmonie gebildete Musikfest Bremen Symphony Orchestra. Brahms und Wagner ohne Vibrato-Ketchup, das klingt, nach drei Probentagen, gar nicht übel. Auch wenn man jedem der Orchester für sich genommen eine rundere Interpretation zutrauen darf. „Das ist Festival“, kündigt ein sichtlich stolzer Thomas Albert als Intendant die Premiere des Klangkörpers an. Stimmt – wenn Festival in erster Linie Show heißt.

Benno Schirrmeister

Musikfest heute: Ensemble Florilegium, Georgskirche, Sottrum, 20 Uhr