Skurrile Moderne
: Gold im Rennen der Lieferwagen

Man muss nicht in historische Ferne schweifen, um dem besonderen olympischen Charme nachzuspüren. Auch ein Blick auf die Spiele der Neuzeit fördert manche Kuriosität zutage, sowie ungewöhnliche Sportler und skurrile Disziplinen.

Zum Beispiel Seilklettern in Athen, wo 1896 ein Mast von 14 Metern Höhe erklommen wurde, ohne dabei die ausgestreckten Beine zu bewegen. Der errechnete Mittelwert aus Schnelligkeit und Technik war entscheidend. In Paris im Jahre 1900 mussten die Herren (von ca. 1.600 Teilnehmern waren etwa 20 Frauen) beim Hoch- und Weitsprung noch auf den Anlauf verzichten. Kamen beim Tauziehen (Paris 1900 bis Antwerpen 1920), Lieferwagen-Rennen mit Benzinmotor (Paris 1900) oder Keulenschwingen (St. Louis 1904 und Los Angeles 1932) die grob gestrickten Sportfreunde auf ihre Kosten, so erfreuten sich die Feingeister an Krocket oder Golf (Paris 1900 bis St. Louis 1904) und diversen Kunstwettbewerben (Stockholm 1912 bis London 1948). Hierzu zählten Baukunst, Musik, Malerei, Bildhauerkunst und Literatur. Hier siegte der Baron Pierre de Coubertin 1912 in Stockholm mit seinem Gedicht „Ode an den Sport“.

Damals waren die Spiele auch frei von garstigen Zwängen wie etwa einem straffen Zeitplan. 1900 in Paris hüpfte, hupte und sprang man entspannte fünf Monate lang. Auch andere Besonderheiten sind in den Annalen zu finden. Myer Prinstein, tief religiöser Weitspringer aus den USA, weigerte sich, am heiligen Sonntag in Paris zum Finale anzutreten. Als Landsmann Alvin Kraenzlein seine Weite dann um einen Zentimeter verbesserte, vermöbelte er ihn – Sonntag oder nicht – ganz unzeremoniell.

Zwei holländische Ruderer hatten ein anderes Problem. Sie standen vor dem Finale plötzlich ohne Steuermann da. Zu ihrem Glück war ein französischer Junge zugegen, den sie kurzerhand ins Boot holten. Auf dem Siegerfoto steht er noch auf dem Podium, danach ward er nie mehr gesehen.

Einen Hang zu ungewöhnlichen Hilfsmitteln bewies der Amerikaner Fred Lorz bei den Spielen in St. Louis 1904. Er legte einen Großteil der Marathonstrecke mit dem Wagen zurück und stieg erst kurz vor dem Ziel aus. Sein PS-Doping brachte ihm allerdings die Disqualifikation ein.

In Stockholm 1912 hatten die Radfahrer 320 Kilometer zu bewältigen, wogegen die Etappen der Tour de France wie eine Runde um den Block wirken. Der griechisch-römische Ringer Martin Klein aus Russland und sein finnischer Kollege Alfred Asikainen brauchten elf Stunden, um den Sieger zu bestimmen. Neben diesen sportlichen Heldentaten war auch Platz für menschliche Größe. In Amsterdam 1928 ließ der australische Ruderer Henry Pearce eine Entenfamilie vorbeipaddeln, ehe er seine Siegesfahrt fortsetzte.

Mit der zunehmenden Professionalisierung der Spiele wurden derartige Freundlichkeiten unter den Athleten allerdings seltener, auch unerwünschtes Geflügel ist heute kaum vorstellbar. Von 1924 an schrieb die Olympische Charta den Ablauf der Spiele detailliert fest, die Wettbewerbe wurden klar definiert. Freunden innovativer Disziplinen und sportlicher Absurditäten bleibt der Blick in die Vergangenheit. GESA EVERS