Kopiermaschine Leben

Der entropische Körper in Posen und Spektren: „An Infinite Painting on ‚A Vision of the Last Judgment‘ by William Blake“. Nach der umfassenden Werkschau von 1999 sind in der Zwinger Galerie wieder einige Arbeiten von Nikolaus Utermöhlen zu sehen

VON D. MORITZ-HOLLAND

Als Nikolaus Utermöhlen 1996 aus dem permanenten Stilkonzil der Berliner Szene schied, war er deren einer stillster Vertreter. Jemand, der verstand ein Geheimnis aus sich zu machen. Mit seinem schmalen Oberlippenbärtchen und den stets überreich beringten Fingern, einer Vorliebe für Krawatten unter bunten Pullundern oder in selbst gefertigtem Gehrock, ein wenig Dali, ein wenig Warhol, aber niemals schrill, stand er schon längst neben sich, mit abgelöstem Geist und mit seinem Körper aus der Kopiermaschine, die das Leben ist: Entstammen doch all unsere Leiber, auch die, die sich in Erotik tummeln, im Grunde serieller Produktion und sind unterworfen einer Gerichtsbarkeit, die allgemein die des 2. thermodynamischen Gesetzes ist; eines Gesetze, das unmittelbar und visionär ins Bewusstsein tritt, besinnt man sich des eigenen Verfallsdatums.

Neben dem reichhaltigen multimedialen, auch ideellen Erbe der Künstlergruppe „Die Tödliche Doris“, die sich mit dem Begriff „Genialer Dil(l)ettantismus“ der Kunstwelt der 80er-Jahre wesentlich verbindet und deren Belange „gelebter Kunst“ Utermöhlen all die Zeit über mitgeprägt hatte, hinterließ uns der an den Folgen von Aids verstorbene Berliner Künstler auch ganze Serien figurativer Bildwerke. Sie erreichten uns aus der Zeit nach der freiwilligen Selbstauflösung der Gruppe 1987. Nach der umfassenden Werkschau Utermöhlens von 1999 sind nun Teile seiner Arbeit erstmals wieder in der Ausstellung „An Infinite Painting on ‚A Vision of the Last Judgment‘ by William Blake“ in der Zwinger Galerie in der Gipsstraße in Berlin Mitte zu sehen.

„Das Jüngste Gericht ist nicht Fabel oder Allegorie, sondern Vision“, kommentiert William Blake (1757–1827) die Zeichnung seines Gottesgerichts und Höllensturzes (1808), dessen schwarzweiße Reproduktion als Vorlage für Utermöhlens Bilderzyklus von 1992 dient. Blake nennt es ein Richten über „schlechte Kunst und Wissenschaft“, während in Utermöhlens technischem Vorgehen – und indem er das Genre des Kitsches und der Schwulenkunst streift – der allfällige Ausgleich stattfindet an der Benachteiligung des Trivialen gegenüber der „Hochkultur“ und ihrem konventionellen Bewertungssystem. Ohne Rücksicht auf deren restriktiven Normierungsapparat scheint ihm angelegen, mit seiner Malerei ein möglichst umfassendes Spektrum zu entfalten und selbst in ihm aufzugehen. Hierzu dient ihm der Farbkopierautomat, den er dann planvoll als Malmaschine einsetzte, um Schicht für Schicht seine leuchtenden Einzelfarben zu strukturieren, den Prozess des Sehens simulierend, und letztlich aufzugehen in einer psychedelischen Farbkaskade, die uns auf phantasmagorische Weise Blakes Körperlandschaft wieder herausmodelliert.

Dass dem Künstler das nahende persönliche Ende auch ständig das Existenzielle von Furcht, restlichem Begehren, von Selbstinszenierung und Armierung und ein letztgültiges Besinnen hierüber vor Augen führte, darüber können wir jetzt, nachdem einige Zeit verstrichen, ohne Verlegenheit und allzu großes Ressentiment befinden. Und während der weiße Android in Ridley Scotts Kultfilm „Blade Runner“ angesichts der tickenden Gen-Uhr in ihm immer noch fordert: „Vater, ich will mehr Leben“, scheint sich Untermöhlen abgeklärt und für Außenstehende nahezu unfassbar humorvoll in seinen Bildserien zu atomisieren. Er scheint aufgehen zu wollen in seinem eigenen thermodynamischen Prozess, der sich auch auf dem vierteiligen Tableau „Vor dem Tempel der Ungerechtigkeit“ als verschwenderisches Sonnenuntergangsfarbspiel darstellt, durch das sich die Bruchlinie zweier verschiedener Bildmotive zieht und das dem von Wärmefotografien gleicht – Lichtwesen, die wir alle sind, wenn wir dies Leben als Energiepartikel führen, Wärme, die letztlich verglimmt. Eine Metaphysik, die zwischen Säulen und skulpturalen Körpern die Paradigmen der Antike aufgreift und wie ein Ausschnitt aus dem Cyberspace aufscheint; eine Erkenntnis, die auch hier befördert wird mit Acrylbinder und Plaka-Leuchtfarben auf Fotokopien und auf Aluminium gezogen in einer Art halluzinativer Korrosion aus der Kunstmaschine, in der sich letztlich alle KünstlerInnen bis zu ihrem Ende durchgängig selbst reproduzieren.

Auf diesen glühenden Aluminiumtafeln, durch die ein Riss geht, trifft der nackte, entropische Körper in einer letzten romantischen Anstrengung auf sein gepanzertes Alter Ego, das ihm sehr ambivalent mit der ganzen triumphierenden Häme des Lebenden gegenübertritt, sich zugleich aber in seiner Pose selbst desavouierend. Poseure sind wir doch alle, soll das wohl heißen, indem wir versuchen, unsere Furcht vor dem Finsteren, vor der Unausweichlichkeit unseres biologischen Vergehens zuzustellen mit leuchtenden Werken, Poesie, Musik, Kunst, Worten, die einem zufallen. Wir wissen von Nikolaus Utermöhlen, dass er ein Freund von guter Science-Fiction-Literatur war, und es nimmt nicht wunder, dass die durchstrahlte Szenerie vor der Villa des römischen Kaisers Hadrian an einige entropische Erzählungen von James Graham Ballard erinnert. Denn schließlich wird immer ein finaler Sonnenuntergang heraufziehen und die Legion durchstrahlen, mit der wir längst unsere Welt überzogen haben.

D.MORITZ-HOLLAND

D. Holland-Moritz ist Autor des Erzählbandes „Lovers Club. Eine Stimme aus dem Off“, Merve Verlag, Berlin 2002

Bis 4. Sept., Zwinger Galerie, Gipsstr. 3, Di.–Fr. 14–19 Uhr, Sa. 11–17 Uhr