das leben – eine kartoffel von JOACHIM SCHULZ
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Seit Jahrtausenden versuchen die Gelehrten herauszuklugfideln, was das Leben sei. „Das Leben ist ein Traum!“, behauptete Pedro Calderón de la Barca, während Heinrich Heine dekretierte, dass „das Leben eine Krankheit“ sei. Ich aber sage Ihnen: Das Leben – zumindest meines – ist eine Kartoffel.

Schon meine Erschaffung ist wesentlich dem Umstand zu danken, dass Francisco Pizarro die ersten Erdapfelpflanzen im Jahre 1526 aus der Neuen Welt nach Europa verschiffte. Nur eine gemeinsame Schwäche für Kartoffelpuffer sorgte nämlich dafür, dass meine Eltern sich auf einem Schützenfest an der Theke eines Reibekuchenverkaufsstands erstmals begegneten: Umgehend entbrannten sie in Liebe füreinander, und schon wenige Wochen später ergriffen sie Maßnahmen, die letzthin zu meiner Erzeugung führten.

Auch meine Kindheitserinnerungen sprechen eine deutliche Sprache: Stets nämlich spielen darin die sagenhaften Knödel, Kroketten und Herzoginkartoffeln meiner Mama eine tragende Rolle, die ich in exorbitanten Mengen zu vertilgen pflegte.

Es ist insofern kein Wunder, dass ich in der neunten Klasse mit einem Referat über die Kartoffel den sensationellsten Erfolg meiner gesamten Schullaufbahn landete. Mein Lehrer, der mir eine solche Spitzenleistung im Traum nicht zugetraut hätte, stotterte jedenfalls vor lauter Begeisterung, als er meinen Vortrag am Ende der Stunde rühmte. Ich selber wiederum schloss daraus, anscheinend ein gewisses Talent zum Anekdotenerzähler zu besitzen, was letztlich keinen geringen Einfluss auf meine spätere Entscheidung hatte, mich im Autorenberuf zu versuchen.

Gleichfalls sind freilich die verheerendsten Niederlagen meines Lebens untrennbar mit der Kartoffel verbunden. Noch nie nämlich ist es mir gelungen, bei der Bratkartoffelherstellung ein ähnlich delikates Ergebnis zu erzielen, wie meine Großmama es schier mühelos zu Stande bringt, da ich – wenn ich es ihr gleichzutun versuche – entweder einen fettigen Stampel oder aber eine kompakte Masse produziere, die schwer an ein Kokereierzeugnis erinnert.

Im Gegenzug aber sorgt der Erdapfel auch dafür, dass über der Liebsten und mir fast ununterbrochen die Sonne scheint. Denn wenn ich doch einmal knurrig und missmutig bin, dann braucht die Liebste sich bloß auf ihre iberischen Wurzeln zu besinnen und eine echt hispanische Tortilla herzustellen, um mich in einen schnurrenden Sofatiger zu verwandeln, der alles vergibt und alles verzeiht und überhaupt der Meinung ist, der glücklichste Tiger der Welt zu sein.

Daneben jedoch ist es logisch, dass ich beim Verzehr von Kartoffelgerichten eine gewisse Vorsicht walten lasse. Besonders das Verspeisen von Klößen pflege ich mit äußerster Achtsamkeit anzugehen, denn nur allzu leicht führt ein im Halse stecken gebliebener Knödelpfropf zu einem raschen Erstickungstod. Und wenn auf dieser Erde irgendetwas absolut sicher ist, dann dies: dass auch mein Hinscheiden dermaleinst ursächlich mit der Kartoffel zu tun haben wird.