„Prinzipielles Desinteresse“

Die Ost-SPD hat keine Hoffnung, beim Kanzler dauerhaft Gehör zu finden. Und bangt um den Wahlsieg in Brandenburg

Hinter den Ost-Protesten steckt der Eindruck, nicht mehr vorzukommen

VON MICHAEL BARTSCH
UND ANNA LEHMANN

Die Genossen im Osten waschen ihre Hände in Unschuld: „Ich habe im Parteirat gesessen und zu Hartz IV meine Meinung gesagt“, weist Thomas Jurk, Fraktionschef der SPD im Sächsischen Landtag, jede Verantwortung für das lange verkannte Ausmaß des Unmuts über die Arbeitsmarktreform von sich. Allein: Spät, womöglich zu spät neigten die Berliner SPD-Parteihäupter ein Ohr gen Osten.

Gelegenheiten dazu hat es freilich schon in der Vergangenheit gegeben. Etwa als sich Mitte Juli Parteivorsitzender Franz Münterfering in Dresden die einmütige Genossenkritik am „West-Hartz“ anhören musste. Der Sachse Jurk konstatiert ein prinzipielles Desinteresse der Bundespartei am Osten. Übermächtig ist die Lobby der starken westdeutschen Landesverbände, und alle starren wie das Kaninchen vor der Schlange auf die anstehenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen.

Dabei ist die nächste sozialdemokratische Bastion, die wankt, gar nicht NRW. Sondern das lange als ebenso rot verschriene Brandenburg: Heute reist der Bundeskanzler persönlich ins das Ostland, in dem die SPD noch vor gar nicht so langer Zeit mit absoluter Mehrheit regierte. Schröder macht Wahlkampf gemeinsam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Matthias Platzeck. „Wir verstecken Schröder nicht“, meint SPD-Landesgeschäftsführer Klaus Ness trotzig.

Grund dazu hätte die Brandenburger SPD. Denn Platzeck muss am 19. September die Landtagswahl im Gegenwind der unpopulären Arbeitsmarktreform seiner Partei bestehen. Platzeck meidet deshalb in diesen Tagen die Verteidigung der Politik der Bundesregierung: „Es ist doch so: Bei der Brandenburgwahl geht es zunächst einmal um Brandenburg selbst. Wenn von der Brandenburgwahl darüber hinaus noch ein positives Signal für die SPD insgesamt ausgehen sollte – umso besser.“ Seit 15 Jahren regiert die SPD hier ohne Unterbrechung. Ein erneuter Sieg wäre wie ein „Hoffnungszeichen für die SPD“, schwärmt Ness, der den Wahlkampf leitet. Über den Fall des Falles möchte er nicht einmal nachdenken. „Fiele Brandenburg, wäre das eine Erosion für Schröder“, warnt der Potsdamer Politologe Jörg Dittberner. Für die gebeutelten Ost-SPDler wird jede Nachricht, die nicht total schlecht ist, gleich zur frohen Botschaft. In einer neuen Umfrage liegen sie in Brandenburg mit 2 Prozentpunkten vor der CDU. „Die CDU ist raus, Schönbohm hat gelost“, jubelt Ness. Und verschweigt: Dafür hat die PDS die SPD mit 2 Prozentpunkten überholt. Die Postkommunisten hatten die Sozialdemokraten schon gar nicht mehr auf der Rechnung, sondern alle Hoffnung in das Duell zwischen Platzeck und seinem CDU-Herausforderer Jörg Schönbohm gesetzt: der fröhliche, moderne Ossi gegen den grimmigen, vormodernen Wessi.

Wer Platzeck als Ministerpräsidenten haben will, muss SPD wählen, so lautet die Botschaft. Und: Selbst wenn die PDS stärkste Partei werde, käme es so. Dann würden SPD und CDU eine Koalition der Verlierer eingehen, meint Dittberner. Richtig ist, dass die Brandenburger in einer reinen Personenwahl laut Umfragen mit absoluter Mehrheit den gebürtigen Potsdamer Platzeck unterstützen würden. Ob sie ihn auch samt Partei mit ausreichender Mehrheit wählen werden, hängt davon ab, wie gut Platzeck seine Rolle als „Anwalt für den Osten“ ausfüllen kann. „Wir haben in den letzten Wochen eine wachsende Demonstrationswelle erlebt. Vordergründig richtete sich der Protest gegen Hartz IV. Aber dahinter steckt der tief sitzende Eindruck sehr vieler Ostdeutscher, in dieser Republik im Grunde nicht vorzukommen, nicht mehr wahrgenommen zu werden“, warnt Platzeck. „Und ich werbe überall sehr intensiv dafür, dieses Defizit zu erkennen, ernst zu nehmen und zu beseitigen.“

Der Brandenburger Ministerpräsident nimmt für sich in Anspruch, sich innerhalb der SPD besonders kräftig für Nachbesserungen bei der Arbeitsmarktreform ins Zeug gelegt zu haben. Und Klaus Uwe Benneter, der Generalsekretär der Bundespartei, meint wohlwollend: „Ich bin zuversichtlich, dass die vorgenommenen Präzisierungen bei der Arbeitsmarktreform für Matthias Platzeck hilfreich sind.“

Vielleicht blickt das Willy-Brandt-Haus jetzt nach Brandenburg. Auf dauerhaftes Interesse der Spitze am Osten hoffen die Funktionäre in den neuen Ländern nicht. Solche Illusionen habe man schon einmal nach dem Magdeburger Ost-Parteitag im Vorjahr begraben, sagt Uwe Höhn, stellvertretender SPD-Landesvorsitzender in Thüringen. Er habe als finanzpolitischer Sprecher seiner Erfurter Landtagsfraktion schon im Sommer 2003 alle Agenda-Folgen für Ostdeutschland vorgerechnet. Nach dem dritten Anlauf habe endlich die Bundestagsfraktion reagiert. Die aber, so Thomas Jurk, habe es auch immer schwerer, zur Bundesregierung vorzudringen. In Sachsen ist mit dem Rückzug der ehemaligen Landesvorsitzenden Constanze Krehl zugleich der Einfluss der „auf Linie“ liegenden und ihrem Flügel zugerechneten Bundestagsabgeordneten zurückgegangen.

Die nächste rote Bastion, die wankt, ist nicht NRW, sondern Brandenburg

Jurk, nunmehr alleiniger Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 19.Juni, spricht eine andere Sprache. Wenn es in jüngerer Zeit konkret um die Anrechnung von Datschen und andere Zumutungen ging, hat sich Jurk klar auf die Seite der Betroffenen gestellt – ganz wie die PDS. Und wenn jetzt parallel zu den jüngsten Zugeständnissen der Bundesregierung bekannt wird, dass Langzeitarbeitslose keine Ich-AG-Zuschüsse mehr bekommen, schüttelt Jurk nur seinen wuchtigen, kahlen Schädel. „Einen Clement brauchen wir hier im Wahlkampf nicht“, hatte er schon ganz offiziell fallen gelassen.

Lassen sich die ostdeutschen SPD-Genossen nun durch die kosmetischen Hartz-Korrekturen bei der Januar-Auszahlung und den Sparbuchfreibeträgen für Kinder beruhigen? Das ginge „in die richtige Richtung“, hatte Fraktionschef Jens Bullerjahn in Magdeburg offiziell verlauten lassen. Die Grundlinie der Arbeitsmarktreformen werde trotz aller Kritik mitgetragen. Jeder wisse, dass die SPD dabei nur verlieren kann, und die Kritiker in anderen Parteien seien froh, dass sie dieses Projekt nicht selbst angehen müssten. Im Übrigen kenne er seine Spielräume.

Sein Parteifreund und Sachsen-Anhalter DGB-Chef Udo Gebhardt kann deutlicher werden. „An den Knackpunkten Leistungshöhe und Zumutbarkeitsregelungen hat sich nichts geändert.“ Als er die Korrekturen in seinem Dessauer Ortsverein vorstellte, sei er fast einstimmig dazu ermuntert worden, sich als Gewerkschafter weiter einzumischen – und den Druck der Straße zu erhöhen.