Nächstes großes Ding

Andy Roddick aus Omaha gewinnt die US Open und versetzt die Tennisfans seiner Heimat in Entzückung

NEW YORK taz ■ Beim ersten Mal haut’s alle um. In Paris fiel Juan Carlos Ferrero den Seinen mit feuchten Augen in die Arme, in Wimbledon schossen Roger Federer die Tränen in die Augen, und Sonntag in New York stand Andy Roddick mit wirrem Blick da, überwältigt von der Bedeutung des Augenblicks. Irgendwie war ihm klar, dass er gerade die US Open gewonnen hatte, aber irgendwie kam es ihm auch vor, als sehe er sich selbst beim Träumen zu. Umjubelt von 20.000 Zuschauern hielt er später den Pokal in den Armen wie einen Schatz, und als er für die obligatorischen Fotos seine Lippen darauf gedrückt hatte, wischte er mit den Fingerspitzen ganz vorsichtig den Abdruck weg.

Es ist sinnlos; diese Spuren sind nicht mehr zu verwischen. Mit dem ersten Grand-Slam-Titel seiner Karriere, gewonnen mit einem souveränen Sieg im Finale gegen Juan Carlos Ferrero (6:3, 7:6, 6:3), ist Andy Roddick dort angekommen, wo ihn die Landsleute am liebsten sehen: in der Liga der Großen. Seit zwei Jahren haben sie ihn daheim so lange mit der Frage traktiert, ob er the next big thing des amerikanischen Tennis sei, bis er das nicht mehr hören konnte, aber nun hat er eine Antwort mit Zahlen und Taten gegeben. Nach einem perfekten Drehbuch mit einer unwiderstehlichen emotionalen Klammer: Zu Beginn der US Open 2003 der tränenweiche Abschied von Pete Sampras, mittendrin ein Abgesang auf Michael Chang, gegen Ende offene Fragen zur Zukunft von Andre Agassi, und am Schluss der ersehnte Aufstieg des neuen Stars. Andy Roddick, geboren in Omaha/Nebraska, aufgewachsen in Texas, jetzt in Florida zu Hause und seit gut einer Woche 21 Jahre alt.

Schwer zu sagen, wie sich die Dinge entwickelt hätten ohne die Trennung Anfang Juni vom langjährigen französischen Coach Tarik Benhabiles und ohne den Wechsel zu Brad Gilbert. Seither hat er vier Titel gewonnen, und mit einer Serie von 19 Siegen ist er der erfolgreichste Spieler dieses Sommers. „Brad heimst jetzt viel Lob ein, was er auch verdient“, sagt Roddick, „aber Tarik war vier Jahre mit mir zusammen, und er war der Erste, der mir gesagt hat: Du kannst Profi werden, du kannst wirklich gut werden in diesem Spiel.“ Benhabiles war eher wie ein besorgter, väterlicher Freund, in Gilbert hat er einen alterslosen Kumpel gefunden, mit dem er über jeden Blödsinn der Welt reden kann, der aber auch eine Form von Zuversicht verbreitet, die nicht zu bezahlen ist. Es ist offensichtlich, dass Roddick Gilberts Sprache versteht, dass er was anfangen kann mit einer Botschaft wie dieser: Wenn du einen Grand-Slam-Titel gewinnen willst, musst du nur alle zwei Tage einen Weg finden, drei Sätze zu gewinnen. Genau das hat Roddick diesmal getan.

Früher wollte er alles auf einmal, reagierte wie ein Kessel mit zu viel Druck; im entscheidenden Moment flog der Deckel hoch, und der Wasserdampf vernebelte den Blick. Abseits des Platzes ist er auch mit 21 noch derselbe Kindskopf wie vor einem Jahr – schlagfertig, verspielt und ein wenig großspurig auf die charmante Tour –, bei der Arbeit aber ist er erwachsen geworden. Selbst eine Situation wie jene beim Matchball von David Nalbandian im Halbfinale brachte ihn nicht aus der Ruhe, und im Finale, dem ersten großen Endspiel seines Lebens, konnte er es selbst kaum glauben, wie ruhig er war. „Ich hab fast gar nichts gefühlt.“ Ungerührt drosch er mit seinem Monster-Aufschlag die Asse in Ferreros Feld.

In der Sekunde nach dem Matchball war es aber vorbei mit Andy Roddicks Ruhe, und mit fast kindlichem Staunen gab er später zu: „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass mein Name jetzt zum Begriff US-Open-Champion gehört.“ Nur zu gern wird er sich an den Gedanken gewöhnen, aber es ist schon absehbar, dass die Leute mehr von ihm wollen. All jene, die in ihm nicht mehr nur die Zukunft des amerikanischen Tennis sehen, sondern die Zukunft des Tennis überhaupt, müssen sich allerdings gedulden. „Ich schätze, da muss ich schon noch reichlich mehr Spiele gewinnen, wenn ich die Zukunft des Tennis sein soll.“

Aber der Anfang ist gemacht, die ersten Tränen sind vergossen, und Roddick weiß, dass er die Last nicht allein tragen muss. Auch Federer und Ferrero können Pokale küssen, und wer der Erste sein wird, der zum zweiten Mal küsst, ist noch lange nicht raus. DORIS HENKEL