Lob dem Dünkel

Bringt Abhilfe bei Michel Houellebecq und Kumpanen: Philipp Tinglers Tagebuchroman „Ich bin ein Profi“ überzeugt durch seine sture Mitleidlosigkeit mit Jammerern aller Art und seine absolute Ignoranz gegenüber kleinbürgerlichen Befindlichkeiten

Die Hochmut-Vortäuscher sind für Tingler die Herren Spinnen und Scheck

von BRIGITTE WERNEBURG

„Was, sind plötzlich die Hässlichen am Ruder?“ Doch, das dürfte durchaus eine der größten Sorgen Philipp Tinglers sein, des Autors des literarischen Tagebuchs „Ich bin ein Profi“. Ja, Tingler ist ein Schnösel. Als solcher freilich ist er ein Profi. Denn er hat den Schnösel mit der Muttermilch eingesogen: „Im Charakter meiner Familie liegt allzu viel Hochmut und Misslaune. Man hat es sich über Generationen zur Gewohnheit gemacht, anderen zu nahe zu treten und sie zu maßregeln und zu schikanieren, um sich zu zerstreuen.“ Zu Recht also nimmt er den Titel in Anspruch, und das macht einen entscheidenden Unterschied. Tingler ist keiner jener Hochmut-Vortäuscher, in denen er einen Prototyp des Literaturbetriebs ausmacht und den er so treffend beschreibt, dass man nach der Lektüre seines Tagebuchs nie wieder in die Verlegenheit kommt, ihn nicht sofort zu erkennen.

Tingler erläutert die Figur des Hochmut-Vortäuschers an den Herren Burkhard Spinnen und Dennis Scheck, der eine Schriftsteller, der andere Deutschlandfunkredakteur, beide aber Juroren des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, an dem 2001 auch Tingler teilnahm und grandios scheiterte. Für Dennis Scheck und Burkhard Spinnen eben gilt: „Nur wenige Menschen sind wirklich überheblich. Das ist insofern ein Talent und dementsprechend selten. Natürlich gibt es nicht wenige Leute, die so tun, als ob sie eingebildet wären – aber sie tun das gerade ihrem Wesen zum Trotz, das für wahren Dünkel viel zu schwach, schwankend und unsicher ist.“ Doch die Mimikry hat, wie Tingler sagt, ihre Grenzen, und so bleibt den Simulanten jenes genuin überzogene Selbstvertrauen unerreichbar, das die Sache zu einem Charakterzug macht – und nicht zu einer bloßen Attitüde.

Sein eigener Hochmut verlangt selbstverständlich, dass Tingler alle Protagonisten des Bachmann-Wettbewerbs wie die seines sonstigen Züricher und teils auch Berliner Lebens namentlich nennt. Eine Vorgehensweise bei der Schilderung lebender Personen, in der die Jurorin Konstanze Fiedl eine Steigerungsform des sexual harassment erkannte: das literary harassment. Diesen verstiegenen Begriff gibt Tingler natürlich mit Genuss seinem und dem seiner Freunde Spott preis. Sein durchaus infam protokollierender Stil also, die vollkommene Gegenwart seiner Aufzeichnungen und sein Hedonismus reicht nun dem deutschen Feuilleton aus, ihn zur Popfraktion zu rechnen und als Lifestyle-Literaten zu schmähen. Genauer, als „Geschmacksterroristen“, wie der Juror Dennis Scheck meint. Doch Scheck, als Hochmut-Vortäuscher, muss die Brisanz verfehlen, die in seinem Begriff steckt.

Denn als Geschmacksterrorist ist der 1970 in Berlin geborene Autor, der in St. Gallen und an der London School of Economics Wirtschaftswissenschaften und Philosophie studierte, über Thomas Mann promovierte und (trotz seiner bescheidenen Größe von 1,78 Meter) nebenbei als Fotomodel arbeitete, die Gegenfigur zum literarischen Helden der Stunde, Michel Houellebecq. Wo Houellebecq lamentiert, dass heute selbst das Sexual- und Intimleben nach dem Modell des Wirtschaftsliberalismus funktioniert, konstatiert Tingler völlig ungerührt, dass es genau so ist. Ja, Leute ohne Kapital – „mit Figurproblemen“, wie man mit Tingler konkretisieren würde – haben auch auf diesem Markt des sexuellen Tausches kaum Gewinnchancen.

Gegen Houellebecq, der als Terrorist des Ressentiments das ganze Kleinbürgerrepertoire wie Hass auf Araber, Feministinnen, Jugendliche der Banlieue, Banker oder Koks bedient, lässt sich bei Tingler Abhilfe finden. Gegen Houellebecqs Traum von der Verkleinerung der Kampfzone um das ausgesparte Paradiesgärtlein für den guten Sex, der für ihn mit der Verfügbarkeit der Frauen identisch ist – wie im Sextourismus in der Dritten Welt schon verwirklicht –, steht Tinglers Mitleidlosigkeit mit Jammerern aller Art und seine absolute Ignoranz gegenüber kleinbürgerlichen Befindlichkeiten. Sextourismus beginnt für ihn ja schon in Klagenfurt, wenn er und sein Partner Rich die Schwulenbars aufsuchen. Die freilich sind derart deprimierend, dass sich auch hier keine Punkte für den Bachmann-Wettbewerb abzweigen lassen. Die gehen an Tingler.

Denn als offen schwuler Autor bricht er nolens volens mit der altehrwürdigen und sehr konventionellen literarischen Tradition der misogynen Tirade. Langweiligerweise hat sie ja offenbar immer Konjunktur, wie das überraschende Lob für Benjamin Leberts neuesten Roman „Der Vogel ist ein Rabe“ zeigt. Tingler interessiert sich glücklicherweise nicht für Frauen und glücklicherweise hat er auch keine Figurprobleme.

Beides führt dazu, dass er die Frauen mit dem gleichen vollkommen unironischen, dafür aber restlos sarkastischen Blick ins Visier nimmt wie die Männer. Die geradezu irrsinnige Komik, die er aus dieser Haltung entwickelt, ist spektakulär. Man kann den wahren Dünkel nicht genug loben. Er möge davor sein, dass die Hässlichen ans Ruder kommen.

Philipp Tingler: „Ich bin ein Profi“.Edition Patrick Frey, Zürich 2003,521 S., 24,95 €