bernhard pötter über Kinder
: Hotzenplotz auf der Mailbox

Die Kinder lieben den ungehobelten Räuber aus dem tiefen Wald. Und ich kenne ihn auch irgendwoher. Aber woher?

Kurz hinter Dreilinden geht es los. „Guck mal, Jonas, hier war früher der Kontrollpunkt.“

„Was ist ein Kontrollpunkt, Papa?“

„Hier war der antikapitalistische Schutzwall, den niemand überqueren durfte außer den Kapitalisten. Die, die geschützt werden sollten, wurden erschossen, wenn sie den Schutz verlassen wollten“, hätte ich am liebsten gesagt. Fast wäre der Mauer-Westberliner in mir durchgebrochen. Aber dann müsste ich stundenlang meinem Vierjährigen die deutsche Teilung erklären. Das verschiebe ich lieber auf den nächsten 17. Juni. Also sage ich: „Hier war eine Grenze, wo man erst ewig warten musste und dann den Polizisten seinen Ausweis zeigen musste. Das nannten die Kontrolle.“ „Polizisten?“, fragt Jonas vom Rücksitz des Autos. „Wen haben die denn gesucht? Räuber?“ Ich seufze. Also doch eine Debatte über jüngere deutsche Geschichte? Über Raubtierkapitalismus und Freiheitsberaubung?

Da sagt Jonas: „Mach doch endlich die Kassette an! Die vom Räuber Hotzenplotz.“

Erleichtert schiebe ich das Tape in den Recorder. Anna schließt die Augen, als das Räuberlied erklingt und Jonas laut mitsingt: „Sieben Messer und ein Gewehr – hat der Räuber Hot-zen-plotz!“ Dann beginnt die Geschichte. Tina und Anna schlummern auf ihren Sitzen. Jonas hört gespannt zu.

Ich lasse die Transitstrecke nach Nürnberg unter dem Auto dahinrollen und meine Gedanken wandern. Ein Zehntageurlaub in der Fränkischen Schweiz liegt vor, ein Haufen erledigter Arbeit hinter uns. Und für die ein, zwei Rückrufe, die ich erwarte, ist das Handy dabei. Ein wohliges Gefühl wie in der Bierreklame macht sich in mir breit: das Gefühl von getaner Arbeit.

Aber irgendwas passt nicht ganz ins Bild. Irgendwo stört was. Nur ein bisschen. Aber immerhin.

Dann höre ich mich ein: Der Räuber Hotzenplotz! Diese Stimme! Dieses lang gezogene „Waas?“, dieses rrrrollende R, dieses derb-freundliche Fluchen: „Kruzitürken!“ Woher kenne ich das?

„Jonas, was macht eigentlich der Räuber Hotzenplotz?“

„Mensch, Papa, er klaut der Oma von Kasperl und Seppel die Kaffeemühle.“

Ich höre genauer hin: Hotzenplotz lacht über seine Gegner. Er spielt mit dem Gesetz Katz und Maus. Er nimmt den Menschen, was sie haben. Und ganz am Schluss wird er ehrlich und beliebt. Auch bei denen, die ihn die ganze Zeit schnappen wollten. Nur bei Jonas nicht: „Nee, der meint es nicht ehrlich. Er bleibt ein Räuber.“

Woher kenne ich das? Ich fingere nach der Kassettenhülle, die zwischen den Vordersitzen liegt. Die urbayerische Geschichte um Kasperl, Seppel und Wachtmeister Alois Dimpfelmoser ist ausgerechnet von Otfried Preußler geschrieben worden. Den Hotzenplotz spricht auf der Kassette Michael Gahr. Die Geschichte wird erzählt von Hans Baur. Die Namen sagen mir nichts. Trotzdem erinnert mich die Geschichte an irgendjemanden. Es ist wie aufzuwachen und einem Traum hinterherzuhängen, der schon vergessen ist. Wie einen Geschmack zu fühlen, den man nicht mehr schmeckt, eine Melodie zu suchen und sie immer gerade jenseits der Reichweite zu haben. Das Gefühl macht mich langsam rasend. Auch wenn wir mit dem geliehenen Fiat Punto nur 120 fahren.

„Jonas“, sage ich. „Ich kenne den Räuber Hotzenplotz irgendwie, aber ich weiß nicht genau, wie. Fällt dir was ein?“ „Du kennst den Räuber Hotzenplotz?“ Jonas lacht abfällig. „Aber das ist doch nur eine Geschichte. Den gibt’s doch nicht wirklich. Das erzählt ihr mir doch immer, wenn ich Angst vor Monstern habe.“

Also auch von dieser Seite keine Hilfe. Ich höre mir die Kassette genau an. Und noch einmal von vorn. Als ich sie zum dritten Mal umdrehe, schaut mich Anna zweifelnd an: „Sag mal, ich weiß, dass das besser ist als Benjamin Blümchen. Aber müssen wir es deshalb stundenlang immer wieder von vorn hören?“

Egal. Ich will jetzt rauskriegen, was der Räuber Hotzenplotz mit mir zu tun hat. Vielleicht ein geheimer Subtext, der zu mir direkt ins Unterbewusste spricht – wie in sehr guten Büchern und in sehr schlechter Werbung? Es geht um bayerischen Traditionalismus à la Seppelhut. Es geht um einen Zauberer, der alles verschwinden lässt, was die Leute haben. Es geht um einen Menschen, der die anderen reizt und sich selbst mit Schnupftabak vollpumpt. Der zu Räubereien aufbricht und sich dann immer wieder in sein Versteck tief im Wald zurückzieht. Kruzitürken, denke ich. Woran erinnert mich das?

200 Kilometer weiter bin ich immer noch nicht schlauer. Wir biegen von der Autobahn ab und fahren durch Franken. Wir kommen an und packen das Auto aus. Ich schalte das Handy an und höre die Mailbox ab: „Grüß Gott, Herr Pötter, hier spricht Theo Waigel. Sie haben versucht, mich zu erreichen. Ich bin in meiner Kanzlei in München zu erreichen. Auf Wiederhören.“

Ich wusste doch, dass ich die Stimme kenne. Was wollte ich vom Räuber Hotzenplotz noch mal wissen?

Fragen zu Räubern?kolumne@taz.de