Keine Einwanderer eingeschleust

Ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Göttingen wurde freigesprochen

HANNOVER taz ■ Die ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Göttingen, Eva Tichauer Moritz, ist gestern vom dortigen Amtsgericht freigesprochen worden. Die Göttinger Staatsanwaltschaft hatte ihr vorgeworfen, dass sie vier Familien aus der ehemaligen Sowjetunion zu Unrecht eine jüdische Herkunft bescheinigt und damit ein Bleiberecht in der Bundesrepublik verschafft habe.

Vor zweieinhalb Jahren hatten die Ermittler sechs jüdische Gemeindebüros und Wohnungen durchsucht und kistenweise Akten beschlagnahmt. Der Anfangsverdacht: Gegen „enorme Geldbeträge“ würden Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion von einer Schlepperbande in die Bundesrepublik geschleust. Doch das Ergebnis der Ermittlungen war mager, und so lautete die Anklage schließlich: Die vier Familien aus der ehemaligen Sowjetunion hätten Abstammungsurkunden vorgelegt, die „so offensichtlich gefälscht“ gewesen seien, dass Tichauer Moritz dies nicht hätte übersehen können.

Amtsrichterin Sandra Bleckmann sah die „Ursache des Prozesses“ gestern allerdings bei einem Erlass des niedersächsischen Innenministeriums von 1993. Er hatte die Jüdischen Gemeinden angewiesen, bei Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion die jüdische Abstammung zu überprüfen. Die Gemeinden seien „ohne Vorbereitung mit der staatlichen Aufgabe betraut“ worden.

Die Richterin wies darauf hin, dass die Gemeindevorsitzende die in Russisch und Ukrainisch ausgestellten Urkunden nicht habe verstehen können. Erst das niedersächsische Landeskriminalamt habe „durch aufwändige Untersuchungen“ eine Fälschung feststellen können. Außerdem habe die Gemeindevorsitzende die Dokumente nicht selbst geprüft, sondern damit den Rabbiner betraut. Gegen zwei Familien hätte Tichauer Moritz kurze Zeit später selbst Anzeige erstattet, weil ihr Zweifel an deren Judentum gekommen seien. Im Übrigen sei bei zwei Einwandererfamilien die jüdische Herkunft bis heute ungeklärt.

Die ehemalige Gemeindevorsitzende kann sich das Verfahren „ohne eine Voreingenommenheit“ der Ermittler nicht erklären. Staatsanwalt Olaf Bruns, der eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen verlangt hatte, wies diesen leisen Antisemitismusvorwurf strikt zurück. „Selbst wenn der Papst hier beschuldigt würde“, werde noch „beim Heiligen Stuhl“ durchsucht. „Nirgendwo in der Strafprozessordnung gibt es einen Punkt, der Mitglieder Jüdischer Gemeinden von der Strafverfolgung ausnimmt.“ Allerdings habe es schon gleich nach den Durchsuchungen einen „kollektiven Aufschrei“ gegeben. Bruns will vorsorglich Berufung gegen den Freispruch einlegen, um dessen Begründung in aller Ruhe prüfen zu können. JÜRGEN VOGES