Nackt, aber mit Zaun

Die Klimaanlage läuft. Mit Gänsehaut warten die Nackten auf Hamburger mit Chips

aus Crownsville MICHAEL STRECK

Ein schweres Holztor versperrt die Weiterfahrt auf dem schmalen Weg drei Meilen abseits der letzten Hauptstraße. Die Linse einer Überwachungskamera funkelt. Links und rechts schlängelt sich ein hoher Zaun durch den Wald, der keinen Einblick gewährt. Eine Stimme meldet sich über die Sprechanlage, prüft den Namen und ob tatsächlich ein Besuchstermin vereinbart wurde. Das Tor öffnet sich. Ein gelbes Warnschild leuchtet vom Baum: „Nude crossing“ – Vorsicht, Nackte überqueren die Straße.

Wer den „Pine Tree Club“ eine Autostunde nördlich der Hauptstadt Washington besuchen will, muss vorab am Telefon ein kleines Verhör über sich ergehen lassen. Zwei Wochen später folgt die detaillierte Wegbeschreibung in eine der Nischen, die das erlauben, was in den USA geächtet ist: das Nacktsein.

Hinterm Tor fahren Nackte auf kleinen Elektroautos vorbei und winken, als ob man sich schon ewig kennt. Kaum sind im Empfangskiosk alle persönlichen Daten abgespeichert und das Auto geparkt, stellt sich ein nacktes Paar vor. Er, ein drahtiger, bärtiger Adam mit Brille, der Doug heißt und eine mädchenhafte Sarah als Eva mit goldener Kette um die Taille. Das Begrüßungskomitee. Doug hat eine Klemmbrett und Faltblätter unter dem Arm. Man kann ihn sich schon jetzt nicht mehr mit Hemd und Hose vorstellen. Er gibt einen kurzen Abriss der Verhaltensregeln, sagt, wie schade es sei, dass wir den gestrigen Tanzabend verpasst hätten, und los geht’s: Info-Tour durch das 40 Hektar große Reich der Nackten mit Pool, Tennisplätzen, Klubhaus, Liegewiesen und 200 im Wald versteckten Wohnmobilen und Holzhütten.

Es ist ruhig an diesem verregneten Sommertag. Nur auf dem Tennisplatz schwitzen einige braune Körper in weißen Socken, Turnschuhen und T-Shirt, untenrum ohne versteht sich. Es steht ja auch in großen Lettern am Gitter: „Beim Spielen nackt sein!“ Manchmal muss man sich die Augen reiben. Ist dies das Land, in dem ein Mann beim Kauf einer Badehose von der Verkäuferin darauf hingewiesen wird, er solle doch besser weite Boxershorts statt eine knappe Sporthose tragen, da man sonst die Umrisse der Genitalien sehe?

In dieser anderen Welt arbeiten Sarah als pharmazeutische Assistentin und Doug als Motorradmechaniker in Baltimore. Fast jedes Wochenende sind sie hier im Club. Seit 20 Jahren. Früher haben sie das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei an abgelegenen Atlantikstränden mitgemacht. Doch irgendwann hatten sie keine Lust mehr auf 100-Dollar-Strafen – in Virginia sind es sogar 1.000 Dollar – und die ständige Nervosität. „Entspannen geht dabei überhaupt nicht“, sagt sie. Und Doug hebt zu einem Vortrag an über das prüde Amerika, seine protestantischen Gründungsväter und den unnatürlichen Körperkult in den Medien. „Dieses Land ist absolut verrückt, wenn es um Nacktsein geht. Versuch gar nicht erst, das zu verstehen.“

Während Soziologen darüber streiten, ob die Amerikaner nun in den letzten Jahren insgesamt liberaler oder konservativer geworden sind, obwohl an Präsident George W. Bush spürbar das Zeitalter der Aufklärung vorbeigegangen zu sein scheint, stimmen immer mehr Amerikaner mit ihren nackten Leibern ab und tummeln sich befreit hinter hohen Zäunen. FKK boomt. Von den landesweit mittlerweile 267 Clubs wurden allein in den letzten zwei Jahren 30 neue eröffnet, die meisten davon in den Bush-Hochburgen Texas und Florida.

Während fast alle Clubs Teil eines wachsenden Tourismusgewerbes sind, bildet „Pine Tree“ eine Ausnahme. Er ist einer der ältesten Clubs in den USA, Gründungsverein der American Association for Nude Recreation und eine Genossenschaft. „Wir haben rund 900 Mitglieder“, sagt Doug stolz. Neu- und Umbauten gingen jedoch schleppend voran, da alle mitentscheiden müssten. So wirkt alles etwas verbraucht. Die Farben sind verblasst und die Holzimitation der Wohnwagen hält die Erinnerung an die Siebzigerjahre wach.

Einer der Wagen gehört Sandy und Mike, die Tür ist offen. „Dies ist mein zweites Zuhause“, sagt die Frau mit der Kupferbräune, den kurzen blonden Haaren und dem schelmischen Blick. Sandy ist Vizepräsidentin und seit zehn Jahren Nudistin. In die Welt der Nackten wurde sie von ihrem Mann eingeführt, einem Künstler, der ohnehin den Tag damit verbringe, entblößte Frauen zu malen. Sie erzählt von ihrem ersten Mal auf der Hochzeitsreise nach Spanien. Tagelang war sie nervös, überlegte, wie sie mit den starrenden Blicken umgehen sollte. „Ich war dann fast enttäuscht, dass ich für die anderen eher ein Neutrum war.“

Sandy verrät weder Alter noch Familiennamen. Wie alle anderen hier gibt sie nur ihren Vornamen preis. Das sei eine eiserne Regel, sagt sie. Der Schutz der Privatsphäre hat oberste Priorität. Unter den Clubmitgliedern seien viele Regierungsmitarbeiter aus Washington. Manche seien richtig paranoid, falls jemand ihre Vorliebe entdecken sollte. „Die haben schlicht Angst, ihren Job zu verlieren.“ Sandy hingegen erzählt freimütig, dass sie für das Gesundheitsministerium in der Hauptstadt arbeitet. Sie sagt, dass Nudisten in den USA meist mit Demokraten assoziiert werden, was ihrer Erfahrung nach nicht stimmt. „Wir haben eine Menge Republikaner unter uns.“ Doch es sei völlig müßig, sich mit ihnen über die prüde und körperfeindliche Regierungspolitik zu unterhalten. „Die sind alle schizophren.“

Beim Gedanken, der fromme Justizminister John Ashcroft, der die nackten Brüste der Justitia in seinem Amtssitz mit einem Tuch verhüllen ließ, würde vielleicht auch gern sein blasses Fleisch in die Sonne halten, muss sie lachen. Politik ist im Club jedoch tabu. Das gebe nur böses Blut, sagt sie. Schließlich komme man hierher, um sich zu erholen.

„Das Land ist verrückt, wenn’s ums Nacktsein geht. Versuch nicht, das zu verstehen“

Das Leben der Nudisten ist voller Regeln. Aus gutem Grund. In einer Gesellschaft, in der Sex aus allen Fernsehkanälen und Werbebotschaften quillt, die aber auf der anderen Seite ein verkrampftes Verhältnis zum menschlichen Körper hat, produziert ein FKK-Club wilde Fantasien. „Amerikaner können Nacktheit nicht von Sex trennen. Sie glauben, wir veranstalten hier eine Dauerorgie“, sagt Sandy. Single-Männer werden nicht aufgenommen. Umarmungen sind erlaubt, doch übertriebene Zuneigungsbekundungen untersagt. Und wie verhält es sich mit der „Dance Night“ am Samstag? Im Mitglieder-Handbuch: „Für den Fall, dass ein Mann sich einer Situation ausgesetzt sieht, in der er zu stark stimuliert ist, sollte er sich bedecken oder ein abkühlendes Bad im Pool nehmen.“

Sandy sagt, dass vor allem die Tanzpartys einen Grenzbreich darstellen. Ernsthafte Konflikte habe es aber noch nicht gegeben, und außerdem sei auch eine Erektion natürlich. Wie gut, dass sich die Genossen bei allzu starker Wallung nicht fotografieren dürfen, auch Haustiere und Schusswaffen daheim bleiben müssen und öffentlicher Alkoholausschank verboten ist.

Es beginnt wieder zu regnen. Die Nackten fliehen in das graue Klubgebäude, das an ein Bahnwärterhäuschen erinnert, und bestellen Hamburger mit Chips. Mit Gänsehaut stehen sie am Tresen, denn die Klimaanlage ist auf Tiefkühltemperatur eingestellt. Wahrscheinlich suchte der Koch einen Grund, um hinter dem Herd eine Hose tragen zu dürfen. Denn Nacktsein ist vorgeschrieben, solange es das Wetter zulässt. So dicht gedrängt wird einem auch das Defizit des Clubs deutlich: relativ alt und ethnisch homogen. Schwarze, Latinos und junge Menschen können sich offenbar nicht für das Adams- und Eva-Kostüm begeistern. Das Durchschnittsalter dürfte über fünfzig liegen. Sandy, die hier zu den Jüngeren gehört, hat dafür eine These und die nennt sie „mangelnde Körperakzeptanz“. Der Perfektionswahn verunsichere vor allem junge Leute und raube ihnen ein natürliches Verhältnis zum Körper. Und so entwickelt sich „Pine Tree“ immer mehr zu einem Pensionärsclub gealteter und ergrauter Hippies.

„Micro Mike“ ist ein junger Bursche. Der Mann ist in den „Dreißigern“, wie er sagt, und von seiner Figur her könnte er Turmspringer sein. Der Spitzname verweist auf seine Körpergröße und hilft, ihn von den vielen anderen Mikes zu unterscheiden, da sie alle ihre Nachnamen verschweigen. Mike wohnt nur einige Meilen entfernt. Er berichtet, dass der Nudistenclub für die Gegend sogar ein Wirtschaftsfaktor sei. Händler und Dienstleister profitierten von der konstanten Nachfrage. Außerdem hat „Pine Tree“ nun wirklich nichts für die Schlagzeilen der Boulevardpresse zu bieten. Der lokale TV-Sender war auch schon da, fand wohlwollende Worte, und nicht einmal der Ortspfarrer hat sich aufgeregt. Streng genommen wird hier eine Art Schrebergarten-Idylle gepflegt. Nur nackt und mit Zaun.

Um fünf Uhr nachmittags müssen alle, die keinen Wohnwagen gemietet haben, den Club verlassen. Alle verabschieden einen, als ob man nächstes Wochenende wiederkommt. Die Empfangsdame überreicht noch schnell den Aufnahmeantrag, einschließlich zweier kostenloser Besuche, damit man sich endgültig für das Nudisten-Dasein entscheidet.