berliner szenen Vagabund mit Brille

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Der Obdachlose bei „Kaiser’s“ war neu hier. Er stand nicht direkt am Eingang, sondern ein paar Meter weiter vor dem grünen Altglascontainer. Seine wilden braunen Haare und der wuselige Bart im runden Gesicht schienen einen erblondeten Jerry Garcia zu zitieren. Er hielt ein paar MOTZ-Zeitungen in der Hand. Sechs Plastiktüten standen neben seinen Beinen. Von weitem variierten die Schichten seiner Kleider unterschiedliche Grautöne. Vielleicht war er fünfzig, in jedem Fall stilbewusst. Vor allem imponierte mir seine schicke große, von weitem hellblaue, leicht ironisch übertriebene Jahrmarktssonnenbrille. Ein wenig schien er verschmitzt und schüchtern zu lächeln, so wie man lächelt, wenn man nett ist und neu irgendwo. Er sah viel besser – interessanter, freundlicher, wahrhaftiger aus als die anderen, und das war tröstend.

Ich zögerte einen Moment, ob ich ihn ansprechen solle, ging dann doch nicht zu ihm hin, nahm sein Lächeln aber mit und dachte ein paar Schritte später, das ist ja wie Mundraub. Eigentlich ist man auch schon längst bescheuert geworden; gehetzt wie ein Erwachsener von den Sachen, die man meint (am Schreibtisch oder anderswo), unbedingt noch erledigen zu müssen. Die Gegenwart kommt abhanden, geht verschütt, wird verwertet. Man würde sich gern wieder im Unsinn verlieren und die Dinge extra ungetan lassen, weil sie so aufdringlich wie ein Amerikaner auf ihrem Wichtigsein beharren. Aber der Vagabund hatte auch fast zu gut ausgesehen, so dass man auch an Beatniks gedacht hatte, an Harry Rowohlt oder an diesen Jazzmusiker bei den Simpsons, den Freund von Lisa, der den Blues hat. Das klingt vielleicht blöd. Es ist aber ganz schön, dass jeder nur ein Zitat eines anderen ist. DETLEF KUHLBRODT