In diesen Zustand kommen

Über einen Tanz aus Japan, den niemand definieren kann: Yuko Kaseki sucht das Gedächtnis des Körpers. Butoh ist „eine Sprachform, die du zuvor nie benutzt hast“, sagt Makiko Tominaga

von KATRIN KRUSE

Neun Tänzer im Kreis, neun Körper, die springen, auf und ab, wie schwerelos, aufgehängt an einem imaginären Faden. „Cut“, ruft Yuko dann, und die Körper fallen, werden wieder hochgezogen, springen weiter, dann wieder „cut“, und erneut wird der imaginäre Faden durchtrennt. Schließlich wird aus der Übung Tanz: Yuko Kaseki fällt zu Boden, leicht wie ein Wassertropfen, der einsickert in den Grund, oder schwer wie ein Stein, und sie wird emporgehoben von einem schnellen oder trägeren Wind. Wenn Kaseki unterrichtet, dann bleibt der große Spiegel im Tanzraum des Dock 11 ungenutzt. Es ist die Vorstellung, die die Bewegung bestimmt, nicht deren Ästhetik: Das ist eines der wesentlichen Prinzipien des Butoh.

Was ist Butoh? Kaseki gibt die Frage zurück: „Ja, was ist Butoh? Alles ist Butoh, oder nicht?“ Da der Butoh-Tanz keine Regeln und keine Theorie kennt, ist es in der Tat schwierig zu definieren, was ihn ausmacht. 1959 zeigt Tatsumi Hijikata zusammen mit seinem damaligen Schüler Kazuo Ohno eine spektakuläre, Sodomie mit einem Huhn involvierende Performance. Mitglieder der Gesellschaft für japanischen Tanz drohen daraufhin mit dem Austritt, Hijikata und Ohno kommen ihnen zuvor, und die Butoh-Bewegung beginnt. Kurz danach zerteilt sie sich in verschiedene Strömungen, und heute, so sagt Yuko Kaseki, tanze „jeder seinen eigenen Butoh“.

Dabei steht Butoh von Anfang an zwischen den Traditionen: Einerseits ist er beeinflusst vom modernen Tanz, andererseits auf der Suche nach einer Bewegungsform, die dem japanischen Körper mehr entspricht. Während im Ballett das Brustbein führt, entsteht die Bewegung im Butoh, ähnlich wie in den asiatischen Kampfkünsten, aus dem Nabelzentrum, dem „tanden“. Für Hijikata lag der Ursprung des Butoh im unwillkürlichen Gedächtnis des Körpers. Diesem Gedächtnis zu folgen wird zum Verfahren: „Die Glieder und Teile seines Körpers wie eigenständige Gegenstände oder Werkzeuge zu empfinden und, umgekehrt, die Dinge zu lieben wie seinen eigenen Körper.“

Mit diesem unwillkürlichen Gedächtnis arbeitet auch Yuko Kaseki, seit 1995 eine der zentralen Figuren des Butoh in Berlin. Was sie interessiert, ist nicht ein Arsenal von Formen, sondern das, was die Form im Körper auslöst: Was etwa geschieht bei den „shirome“, den nach oben gerollten „weißen Augen“, was bei der gebückten Haltung, dem „geschlossenen“ Körper, Füße und Knie nach innen gedreht?

Butoh lässt sich nicht als Bewegungsrepertoire vermitteln, und so beginnt Kaseki ihren Unterricht mit Improvisation, geht ins Spielerische, wo sich Butoh und Pantomime zu treffen scheinen, und wirklich nur scheinen: Denn welche Mimik hat ein Stein, über den Ameisen laufen? Überhaupt wird im Butoh der Körper der Ort, an dem sich die Dinge ereignen: Wenn Bewegungen kleiner werden, im Körper komprimiert, und dann wieder herausbrechen wie ein irres inneres Kichern, das sich des Körpers bemächtigt. Dann wird deutlich, dass so ein subjektloses Kichern für Europäer keine einfache Übung ist.

Ganz sichtbar wird auch, wie sich die Bewegungsqualität verändert, wenn die TänzerInnen die Materialität ihres Körpers und der Dinge anders wahrnehmen, wenn die Luft um sie herum eine andere Qualität zu bekommen scheint. Auch ihre eigenen Stücke entwickelt Kaseki aus der Improvisation. „Toboe“ etwa geht aus von der Zeile eines japanischen Gedichts: Die Angst vor sich selbst als Wasser, das auf den Kopf niederfällt. Mit dem Wassereimer beginnt deshalb das Stück, danach sei sie, so Kaseki, „dem Wasser gefolgt“. So entsteht die Choreografie: eine Welt kreieren und in ihr träumend eine Geschichte erzählen, konkret und abstrakt zugleich.

Für Makiko Tominaga, die als Tänzerin und Choreografin in Berlin arbeitet, ist das „eine Sprachform, die du zuvor noch nie benutzt hast“. Tominaga hat elf Jahre lang bei „Dai Rakuda-kan“ in Tokio getanzt, in einem der bekanntesten Butoh-Ensembles, das sich bereits in den Sechzigerjahren formiert hat. Butoh ist für sie eng mit dieser Zeit verbunden: Happenings, die Betonung der Gruppe. Überhaupt, so sagt Makiko Tominaga, habe Individualität in Japan einen anderen Stellenwert als in Europa. Für den Butoh-Tanz ist das nicht unwesentlich. Immer wieder beschreibt Tominaga das Moment der Entgrenzung: „In diesen Zustand kommen“, sagt sie, und vielleicht ist das der angemessene Ausdruck für die Tänzer, die aussehen, als seien sie nicht mehr von dieser Welt. Genau das ist, was Tominaga am Butoh fasziniert: sich einer anderen Seinsform, einer anderen Zeitlichkeit zu nähern, wie etwa die Pflanze Wasser zieht, vertrocknet, stirbt – und welch starke Präsenz daraus entsteht. Dabei geht es nicht um die Auflösung des Ich, eher um dessen Zurücktreten. „Du wirst dich nie selbst vergessen können“, sagt Tominaga, „nur ist das Ich einfach nicht wichtig.“

Für Kaseki bedeutet die Arbeit mit Butoh im Westen, dass sich der Tanz selbst verändert, schon allein weil Butoh Alltagsbewegungen aufgreift und die Körpersprache in jedem Land eine andere ist. Auch die Motive für die traditionellen Formen, etwa die Weißmalung des Körpers für die Performance, sind sehr divers: einige nutzen die „Weißung“, um die Menschlichkeit abzustreifen. Und andere einfach, weil das Licht auf dem weißen Körper so schön reflektiert. Aber Butoh ist immer der Tanz dazwischen gewesen, und so bleibt der Versuch, das Verständnis von dem, was der Mensch ist, zu verändern. Oder, wie Kazuo Ohno, einer der großen Butoh-Tänzer, gesagt hat: „Die Mauern des Körpers zu überwinden“.