Mehr Ärzte mit weniger Geld

EU-Gericht urteilt: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit. Kliniken haben neues Arbeitszeitmodell schon in der Schublade. Ärztekammer fordert 2.000 neue Stellen. Mediziner trauern um lukrative Zulagen

von JAN ROSENKRANZ

Das Arbeitszeiturteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist in Berlin gelassen aufgenommen worden – auch wenn es kaum ohne zusätzliche Ärzte umsetzbar ist. Der EuGH hatte gestern geurteilt, dass auch für deutsche Klinikärzte der Grundsatz gelte: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit. Marathonschichten wären damit auch für die 8.500 Ärzte in Berliner Krankenhäusern künftig illegal.

Für die Berliner Krankenhausbetreiber kommt dieses Urteil keineswegs überraschend. „Wir haben es erwartet und bereits Modellprojekte in der Vorbereitung“, sagte Vivantes-Geschäftsführer Wolfgang Schäfer. Im Klinikum Friedrichshain werde jetzt ein Pilotprojekt begonnen.

Auch der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, hat mit dem Luxemburger Urteil gerechnet. Damit sei endlich Schluss mit den „Sklavenarbeitszeiten“ in Krankenhäusern. Er gehe jedoch davon aus, dass sich das Problem nicht allein durch Umstrukturierung lösen lasse. Um das Urteil in Berlin umzusetzen, müssten 2.000 neue Ärzte eingestellt werden, was etwa 75 und 100 Millionen Euro koste. Wenn die neuen Arbeitszeitmodelle der Betreiber perfekt liefen, würden eventuell auch 500 bis 1.000 zusätzliche Arztstellen ausreichen, so Jonitz. Selbst der größte Berliner Krankenhausbetreiber, Vivantes, rechnet damit, „dass es ohne zusätzliche Ärzte nicht umsetzbar ist“, so Personalmanager Ernst-Otto Kock. Davon gehen auch Berechnungen von anderen Betreibern, Ärzteverbänden und Gewerkschaften aus.

In der Senatsverwaltung für Gesundheit möchte man sich an derlei Zahlenspielerei nicht beteiligen. Aussagen über zusätzlichen Ärztebedarf seien zum gegenwärtigen Zeitpunkt reine Mutmaßungen, so Sprecherin Roswitha Steinbrenner. Man müsse zunächst die Umsetzung des Urteils in deutsches Recht abwarten. Gesundheitsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) begrüße das Urteil jedoch „ausdrücklich“, weil es „im Sinne der Ärzte und Patienten“ sei. Gleichzeitig sei es aber auch eine Herausforderung an die Krankenhausbetreiber, so die Sprecherin.

Unter der Berliner Ärzteschaft wird das Urteil keineswegs einhellig aufgenommen. Während sich viele Klinikärzte durch die bislang geltende Arbeitszeitregelung benachteiligt und ausgebeutet fühlen, sehen andere in den vielen Bereitschafts- und Nachtdiensten eine zusätzliche Geldquelle. Vor allem jüngere Assistenzärzte bessern dadurch ihr Gehalt nicht selten um bis zu 2.000 Euro monatlich auf. Selbst wenn sich durch die Umsetzung des EuGH-Urteils also die Arbeitsbedingungen verbessern sollten, müssten die meisten Klinikärzte wohl mit Verdienstausfällen leben. „Wenn sie mehr Geld wollen, müssen sie sich eben gewerkschaftlich organisieren“, fordert Ärztekammerpräsident Jonitz, der gleichzeitig Landesvize der Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist. „Patientenschutz hat Vorrang.“

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