Großes Fernsehen eben

DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

„Ich weiß: nichts! Und Sie wissen: auch nichts!!!“ belfert SPD-Chef Fritz Erler. Und Herbert Wehner nuschelbrummt dem darob zusammenzuckenden Reporter noch eins drauf: „Das war schon vor der Wahl quatsch und ist jetzt noch quätscher!“ Nach dem Spiel ist nach der Wahl. Mit dem Abpfiff ein vergeigtes Spiel kommentieren zu müssen, mit der ersten Hochrechnung die Niederlage zu erklären: „Ja, gut …“ heißt, sinngemäß übersetzt: „Weißt du eigentlich, wo du dir dein Mikrofon hinstecken kannst? Und ahnst du, dass ich das gerne ohne Vaseline probieren würde?!“

Die erste Wahlsondersendung der ARD, Ende der 50er, war noch Kunstlichtjahre entfernt vom just gezündeten Völlerböller. Beflissen hatte man Schultafeln ins menschenleere Abgeordnetenhaus geschleppt, vereinzelt tröpfelnde Ergebnislein angekreidet und sich in einer als Interview getarnten Teppichperformance dem Hausherrn Eugen Gerstenmeyer unterworfen. Im Morgengrauen verabschiedete der Moderator sein vermutlich schütteres Publikum mit der abschließenden Information, Herr Adenauer sei zu Bett gegangen; ob er noch Kanzler sei, werde man gewiss in den nächsten Tagen berichten können.

Vier Jahre drauf dräute Konkurrenz am Horizont, das spätere ZDF hieß mokant „Adenauer-Fernsehen“, weil’s dem Alten bei der ARD noch lange nicht ehrerbietig genug zuging. Gegner eines zweiten, vielleicht kommerziell organisierten Fernsehens führten dessen Ideal als „elektronischer Volkshochschule“ an: TV als halbstaatliches Instrument der Belehrung. Mit dem Grimme-Preis hat der Volkshochschulverband das Bewahrenswerte dieser Idee gerettet. Der Rest implodierte an jenem legendären Abend in Gischt und Galle aus Politikermündern. Erler, Wehner und die anderen drängelten sich durch Mikrofon-Spaliere, wollten zu ihren Sitzungsräumen, waren mit den Gedanken schon in der Kabine. Dass es mit dem Machtwechsel wieder nichts war, wollte teils erst noch gesichert, teils noch begriffen werden. Wut, Belehrung, Herrengepolter gegen Journalistenknechte erbrach sich in die Empfangsgeräte.

Was heute anmutet wie der bizarre Versuch, am Abend einer verlorenen Wahl die nächste gleich mit zu verlieren, mendelte sich flugs zu „Lassen Sie mich zunächst einmal meinen Wählern danken“-Girlanden. („Ich muss mich zuerst bei den tollen Fans hier im Stadion entschuldigen.“) „In vielen Rathäusern haben wir aber den Machtwechsel geschafft!“ („Ende der ersten Halbzeit hatten wir den Gegner im Griff!“) „Über personelle Konsequenzen ist jetzt nicht zu reden.“ („Ich klebe nicht an meinem Stuhl wie Berti oder Erich!“)

Fernsehen kam der Politik in den Weg wie später dem Sport. Menschen, die mit viel spielerischer, aber keinerlei schauspielerischer Begabung gesegnet sind, stehen plötzlich einem Millionenpublikum gegenüber. Nicht zufällig weisen viele große TV-Karrieren eine wichtige Station im Sport auf – nirgends gilt es so unerbittlich Gespräche zu führen mit Menschen, die ihre ganze Karriere von der Schulmannschaft bis in die Nationalelf auch mit zusammengebissenen Zähnen schaffen können. Wim Thoelke und Hanns-Joachim Friedrichs beim „Aktuellen Sport-Studio“, auch Günther Jauch, Johannes Kerner, Reinhold Beckmann – viele nahmen den ganz harten Crashkurs und redeten mit Leuten, die nicht reden konnten oder wollten.

Kurt Schumacher: Arm ab, Bein ab und brüllen, dass der Marktplatz schunkelt – mehr als ein Freakjob auf dem Talksofa wäre heute nicht drin. Ludwig Erhard brauchte 20 Klappen für eine dreiminütige Weihnachtsansprache. Da müsste der Referent schon ziemlich viel bei Christiansen anrufen, damit die sich das antut.

Die politikerseits verbreitete Wahnvorstellung vom alles entscheidenden Fernsehen speist sich also nicht nur aus gesellschaftlicher Analyse. Es ist einfach auch ein großes, adrenalindurchflutetes Abenteuer. Dies übersteht, wer sich beizeiten zu spalten lernt: in ein wahres, gefühlsehrliches Ich – und in den eiskalten, stets lieferbereiten Quatschomaten.

Der Nebenwiderspruch, dass man so schizo weder sein kann noch mag, tritt zutage, wenn Altkanzler Kohl es statt der Wahrheit mal mit einem Ehrenwort probiert und beides offenbar nicht mehr unterscheiden kann. Wenn mit Rudolf Scharping einer scheitert, der zum Lügen vielleicht zu wenig selbstverliebt, vielleicht zu tollpatschig ist. Völlers Kernsatz ist, allen anderen spektakulären Zitaten zum Trotz, der, dass er sich kein Magengeschwür holen wolle. Das ist human. Und deshalb will er eine Kommentierung kommentieren, am liebsten wütend verbieten: Der Aufstand des Ich gegen die Rolle.

Das Pressegesetz, mit dem Oskar Lafontaine Rache nehmen wollte gegen alle die Rotlicht-Pensionsschwindel-und-sonstwas-Berichte, sah vor, dass Kommentare gegendargestellt werden dürfen. Das völlert. Lafontaine scheiterte auch damit, ging – wegen Bild-Schlagzeilen – auf Schröder los und betont heute, er sei seit vier Jahren ein freier Mann. Am Montag erklärte er bei n-tv: Hätte Schröder sich so vor seine Mannschaft gestellt wie Völler vor seine – er wäre wohl heute noch Minister. Schröder hingegen offenbart sein abgespaltenes Ich: „Wenn ich könnte und dürfte, wie ich gelegentlich mal wollte, dann würden wir uns alle freuen.“ Es war dem Kanzler nützlich, Rivale Oskar im Kampf gegen die „Schweinepresse“ (vulgo: „Scheißdreck“, „Käse“, „Scheiß“) scheitern zu lassen – um im nächsten Augenblick ebenjene Bild, die nun wiederum Lafontaine heuert, der Kampagne zu zeihen.

Analog vollzog der Fußball die Lehren der Politiker. Noch stets spielt die Deutsche Fußball-Liga, die Firma der Profi-Clubs, mit der Idee eines eigenen Senders: Beckenbauer- statt Adenauer-Fernsehen. In den Niederlanden scheiterte das bereits, vielleicht auch, weil es ganz ohne journalistische Attitude nicht geht.

Die haben aber auch nur zwei, drei quotenwirksame Vereine. In Deutschland sprichwortete RTL-Dino Helmut Thoma, man habe die Ware, die man sich ins Regal lege, nicht schlecht zu reden. Hat man die Politiker, die man interviewen möchte, wohlwollend zu präsentieren? Die Opfersolidarisierung zwischen beiden Kasten sagt: Ja.

Duz-Titan Waldemar Hartmann wird aus diesem denkwürdigen Abend ein Denkmal erwachsen. Sein ganzes viel geschmähtes Gekumpel enttarnte sich hier als angewandte Weisheit: Ich muss hier kritisch sein mit Leuten, von denen ich völlig abhänge. Es muss stets wie ein journalistiches Werkstück aussehen für die einen, doch immer noch wie eine faire PR-Gelegenheit für die anderen. Er hat sich grandios aus der Affäre gezogen. Die Sequenz wird Seminarstoff in Interviewtrainings werden; man könnte auch mal nach einem Politwaldi losscouten. Wobei man bei „Du, sag amal ehrlich, Edi …“ zwischen Lachen und Weinen taumeln dürfte. Großes Fernsehen eben.