Goldener Bär 2003: Das Abaton zeigt Michael Winterbottoms Dokudrama „In This World“ in einer Preview
: Flüchtlingslager im Abendlicht

Dokudrama: In der Bezeichnung dieser Disziplin klingt ihr Dilemma schon an. Selbst wenn man annimmt, dass jede Dokumentation notwendig dramaturgische Schemata befolgt, so beansprucht das Dokudrama die viel stärkere Prämisse, Realität sei von selbst dramatisch. Diese Voraussetzung ist faul und falsch. Spannung ist immer ein Kunstgriff. Zudem versteckt sich eine Portion Autorenfeigheit hinter der Idee des Dokudramas: Weder unter die Wirklichkeit noch unter ihre Geschichte müsse jemand seinen Namen setzen, denn beide erzeugten sich wechselseitig.

Auch Michael Winterbottom versteht sich als Berichterstatter eines Dramas, für das er nicht verantwortlich ist. In this World begleitet zwei afghanische Cousins auf ihrer Flucht aus einem Lager in Pakistan, weiter in den Iran und durch Kurdistan bis zum Bosporus, dann nach Italien, Frankreich und schließlich über den Kanal nach London. Die Produktion betont ausgiebig die heikle Recherche vor und die Gefahren während der Entstehung des Films; den Verzicht auf Drehbuch- und Dialogvorgaben; die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und Ausschöpfung ihrer Erfahrung. Der Film als Corpus Delicti: Seine blanke Existenz beweist den Fall.

Der einleitende Off-Kommentar liefert die Eckdaten zur elenden Flüchtlingssituation in Afghanistan. Aber schon das Produktionsdesign schmuggelt Assoziationen in den Film, die mehr behaupten als bloße Dokumentation: Angefressene Blockbuchstaben lasten felsenschwer auf den Stationen der Flucht. Später markieren immer wieder Punktierungen auf dreidimensionalen Landkarten das Vorankommen der beiden Helden – ganz wie im Abenteuerkino.

Jene Zeiten, die offenbar nichts Berichtenswertes enthalten, werden von Zwischentiteln überbrückt: „Zehn Tage später“. Und selbst Momente der Bewegung dürfen nicht für sich sprechen, über lange Strecken übersetzt sich die Dynamik der Handlung in suggestive Off-Musik. All das sind Stilkniffe, um das spröde Dokument „sexier“ zu machen.

Warum nun aber Jamal und Enayatullah unbedingt nach England wollen, lässt Winterbottom im Unklaren. Gar zu schlecht scheint es ihnen nicht zu gehen, beide haben Arbeit, der Onkel wedelt mit dicken Geldbündeln, In schwarz-weiß und Zeitlupe wird zum Abschied eine Kuh geschlachtet. London lockt lediglich mit dem vagen Versprechen eines besseren Lebens, von dem niemand eine Vorstellung hat. Mit diesem Widerspruch hält der Film sich nicht lange auf, los geht die Heldenreise und motiviert sich fortan aus sich selbst. Die dicken Geldbündel magern schnell ab, die Sprachbarriere wächst zum Unverständnis aus und die Ferne zur Heimat zur tödlichen Gefahr.

Die technischen Möglichkeiten der digitalen Kamera forcieren die Spannungssteigerung zusätzlich. Dramaturgische Höhepunkte sind zugleich stilistische. Das Übertreten der schwer bewachten kurdisch-türkischen Regionalgrenze filmt Winterbottom in tiefdunkler Nacht. Die Leinwand verschwimmt zu grobkörnigen Graufeldern, in die die Mündungsfeuer der Wachposten helle Sterne pixeln. Später scheut der Film sich nicht, uns einzuschließen in einen verriegelten Schiffscontainer. Wir können die Panik der Flüchtlinge um uns nur hören – und ihr Sterben. Die Kamera aber überlebt.

Obwohl die Inszenierung sich um solch mimetischen Mitvollzug der Ereignisse bemüht, fasst einen weder Mitleid an noch Zorn. Warum ein Mensch aus allem Gewohnten ins gänzlich Unbekannte flüchtet, hat man auch am Ende noch nicht verstanden. Zum unbedachten Zynismus geraten die Schlusssequenzen von In this World: Während Jamal kopfhängend über einen trostlosen Basar im Londoner Regen schleicht, schneidet die Regie zurück nach Pakistan. Goldgeflutet liegt das Flüchtlingslager im Abendlicht, Kinder in Sonntagsklamotten flirten kichernd mit der Kamera. URS RICHTER

Preview: Sonntag, 11 Uhr, Abaton; der Film startet am 18.9.