Bär frisst Kind, Blut gerinnt

Gruselparcours mit Happy End: Phelim McDermott und Julian Crouch haben mit „Shockheaded Peter“ den Struwwelpeter adaptiert und schwarze Pädagogik auf noch schwärzeren Humor treffen lassen. Jetzt ist dies im Carrousel-Theater zu genießen

VON ESTHER SLEVOGT

Der Bilderbuchklassiker „Struwwelpeter“ des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann von 1844 hat Generationen von Kindern mit drastischer Deutlichkeit vor Augen geführt, was ihnen passiert, wenn sie nicht auf ihre Eltern hören: Daumenlutschern wird der Daumen abgeschnitten, wer nicht aufessen will, verhungert, Träumer stürzen ab, und die mit Feuer spielen, müssen grausam verbrennen. Freundliche Reime untermalen im berühmten Bilderbuch schaurige Illustrationen: Das pädagogische Mittel ist die Todesangst.

Hoffmanns berühmt-berüchtigter Anschauungsunterricht für Kinder hat in den Neunzigerjahren die beiden Briten Phelim McDermott und Julian Crouch zu einer Schauerrevue inspiriert, die unter dem Titel „Shockheaded Peter“ inzwischen selbst weltberühmt geworden ist. Bösartig, schräg und schrecklich komisch. Ein Gruselparcours durch bürgerliche Wertvorstellungen im Stil viktorianischer Freakshows – schwarze Pädagogik trifft auf noch schwärzeren Humor. Die Londoner Band „Tiger Lilies“ schrieb die eingängige Musik dazu: eine Mischung aus Punk, Tom Waits und Blues. Jetzt hat das Berliner Carrousel-Theater eine gelungene Fassung dieser Trash-Oper auf die Bühne gebracht.

Warnung: Eltern, die immer noch an das Jugendtheater als moralische Anstalt glauben, sollten mit ihren Sprösslingen lieber ins Gripstheater gehen! Auch zarter Besaitete sollten besser den Kinderkanal gucken. Denn hier fließt massig Blut und wird auf Scham- und sonstige Grenzen keine Rücksicht genommen. Schon die drei Musiker sehen wie Zombies aus. Dem Keyboarder wächst eine blutige Beule aus dem Kopf, der Gitarrist könnte auch ein Cousin von Frankenstein sein und hat ein Gehirn zum Herausnehmen. Dann geht der Vorhang für den aasigen Zirkusdirektor (Jörg Seyer) auf, der durch das morbide Monsterkabinett führt. Ein furchterregender Irrer (Christian Keiser) mit Buckel und Hand an unzweideutiger Stelle in der Hose hinkt durch die Szene. Dann treffen wir ein schrilles Elternpaar (Birgit Berthold und Helmut Geffke), das in trauter Zweisamkeit am Tisch sitzt und alsdann kopulierend von Nachwuchs träumt. Und zwar so, dass man schon nach drei Sätzen jedes Kind nur bemitleiden kann, das diesem morbiden Monsterpaar je in die Wiege gelegt werden wird.

Und es kommt, wie es kommen muss. Das Kind ist natürlich der Struwwelpeter und endet sein ungeliebtes Leben an einem Fleischerhaken. So geht es weiter durch Hoffmanns gruseligen Bilderbogen, und wir treffen lauter gequälte Kinder: ein ausgemergelter nackter Kinderkörper wird von einem Bären über die Bühne geschleift: der Suppenkaspar oder „August“, wie das bemitleidenswerte Wesen in der englischen Fassung heißt, denn die Lieder werden dankenswerterweise in der Originalversion gesungen. Da ist aus dem „Zappelphilipp“ dann „Fidgety Phil“ und aus Paulinchen „Harriet And The Matches“ geworden.

McDermott und Crouch lassen durchgängig sämtliche Geschichten für die darin verwickelten Kinder tödlich enden. Der daumenlutschende Konrad verblutet, der böse Friedrich auch. Aus den „böhzen Buben“, die einen „Mohren“ diskriminieren, was auch vor hundertfünfzig Jahren politisch schon nicht korrekt gewesen ist, wurden bomberbejackte Skinheads. Das hübsche Paulinchen (Kim Pfeiffer) hat scheußliche Puppenaugen und gebiert eine Barbiepuppe, deren blondes Haar von Flammenwerfern geschmolzen wird. Zwischen immer drastischen Szenen werden die kleinen Balladen gesungen. Gelegentlich wird auch mal ein kleines Heiner-Müller-Zitat eingebaut: ein Dichter, dessen Fantasie der von Heinrich Hoffmann an Drastik in nicht nachgestanden hat.

Die Pädagogik fordert derweil immer blutigere Opfer. Abgehackte Beine werden verspeist, Arme landen im Häcksler, Kehlen werden im Akkord durchtrennt. Auch die fiesen Eltern müssen am Ende dran glauben. Aber nur, um bald darauf als neue Eltern die Bühne der Geschichte wieder zu betreten: als Punkparents mit rosa Haaren, langen Fingernägeln und Straps-Dessous. Und anders als ihre Vorgänger freuen sie sich jetzt über den Struwwelpeter, der ihnen geboren wird. Die Haare: ganz die Mama. Die Fingernägel: ganz der Papa! Happy End also, auf der Sommerbühne im Hof der Humboldt-Universität. Nicht auszudenken, wenn das Kind ganz normal ausgesehen hätte. Andere Zeiten, andere Werte.

18.–26., August, jeweils 20.30 Uhr, Innenhof der Humboldt-Uni, Unter den Linden 6. Ab September im Carrousel-Theater an der Parkaue