beim zeus
: Der schlimme Finger

FRANK KETTERER über die gestenreich zum Ausdruck gebrachte Frustration der Radfahrerin Judith Arndt

Von der silbernen Medaille war bald nur noch am Rande die Rede. Zwar baumelte sie glänzend um Judith Arndts Hals, aber sie interessierte niemanden mehr. Gesprochen und diskutiert jedenfalls wurde nur noch über den Finger, den die Radsportlerin aus Leipzig gezeigt hatte, just in dem Moment, in dem sie über die Ziellinie gefahren war, als Zweite des Olympischen Straßenrennens der Frauen. Gegolten hatte er nicht der Australierin Sara Carrigan, die sich lange im Windschatten von Judith Arndt versteckt hatte und am Ende vorbeigezogen war, sondern dem Bund Deutscher Rad-Fahrer (BDR), also dem eigenen Verband. Judith Arndt machte daraus schon gleich hinter der Ziellinie kein Geheimnis. „Wenn wir hier mit Petra Roßner gefahren wären, sähe es jetzt anders aus“, sagte sie – und das hieß: Mit Petra Roßner, ihrer Mannschaftsgefährtin beim Team Nürnberger, hätte die deutsche Mannschaft in diesem olympischen Rennen nicht Silber, sondern Gold gewonnen.

Man muss, um diesen Groll und diesen Finger verstehen zu können, die Vorgeschichte kennen. Die geht zum einen so, dass Judith Arndt mit Petra Roßner nicht nur in einer Profi-Mannschaft fährt, sondern auch sonst die Dinge des Lebens mit ihr teilt. Das ist das eine, das Private und Persönliche. Das andere ist, dass auch Roßner, 37 Jahre alt und 1992 schon Olympiasiegerin in der Einerverfolgung, gerne bei Olympia gefahren wäre. Im Juni in Freiburg wurde die Leipzigerin deutsche Meisterin auf der Straße – und alles sah so aus, als würde der letzte Wunsch ihrer langen und erfolgreichen Karriere als Sportlerin in Erfüllung gehen. Jochen Dornbusch, der Bundestrainer, sagte damals jedenfalls: „Die letzte Gelegenheit, um bei Olympia dabei zu sein, hat sie heute genutzt.“ Ein paar Tage später, bei der Nominierung für Athen, war davon freilich nicht mehr die Rede, anstelle von Petra Roßner tauchte plötzlich Angela Brodtka vom RSV Cottbus auf der Nominierungsliste des BDR auf.

Nun gibt es das ja immer wieder: Dass Sportler zu Olympia wollen – und es nicht schaffen. Eine Einzelfallprüfung lohnt sich in diesem Fall aber doch, schon weil es bereits gleich nach der Ausbootung Roßners Wirbel gegeben hatte. „Judith, Trixi und ich fahren zu dritt die ganze Welt in Grund und Boden. Aber wahrscheinlich hat beim BDR noch niemand kapiert, dass Radsport ein Mannschaftssport ist“, hatte Roßner gewettert – und daraus gefolgert: „Ich zweifle das Fachverständnis von Sportdirektor Burkhard Bremer an.“

Mit diesen Zweifeln ist sie längst nicht alleine, durch den Verlauf des olympischen Rennens in Athen dürfte sich diese dunkle Ahnung noch verstärkt haben. Denn von der Hand zu weisen ist es nicht, dass es am Ende das erste Gold für Deutschland hätte geben können, wenn die exzellente Sprinterin Roßner mit von der Partie – und Judith Arndt nicht auf sich alleine gestellt gewesen wäre. „Petra wäre unser Trumpf gewesen, weil sie einfach die schnellste ist“, analysierte denn auch Judith Arndt – und verhehlt dabei nicht, dass sie gerne auf Silber verzichtet hätte, wenn es am Ende dafür Gold für Roßner gegeben hätte – und für die deutsche Mannschaft. Dass BDR-Präsidentin Sylvia Schenk das anders sieht („Wenn Petra Roßner dabei gewesen wäre, hätte Judith Arndt sich zurückgehalten. Dann wäre es ein ganz anderes Rennen geworden.“), liegt in der Natur der Sache.

Festgehalten werden muss, dass die BDR-Verantwortlichen, allen voran Sportdirektor Bremer, skandalträchtige Entscheidungen bevorzugen, nicht nur in diesem Fall. Die nächste Episode steht an, wenn die Bahnradwettbewerbe beginnen. Auch dort gab es einigen Wirbel bei der Nominierung, weil der BDR, auch hier führte Bremer Regie, alles nur Erdenkliche getan hat, um den Start der Sydney-Olympiasieger Daniel Becke (Erfurt) und Jens Lehmann (Leipzig) zu verhindern. Beide zählen unvermindert zu den drei stärksten Bahnradfahrern Deutschlands, beide sind hier in Athen nicht dabei. Auch dieser Skandal kostet Medaillen.

Und noch gar nicht die Rede ist bei alledem von der unwürdigen Art und Weise, wie Verband und Sportdirektor mit langjährigen Leistungsträgern umgehen, die wohlgemerkt immer noch ihre Leistung erbringen. Petra Roßner, die nach der Saison ihre Karriere beenden will und ihre Freundin Judith hierher nach Athen begleitet hat, sagt: „Das ist der Moment, für den ich 20 Jahre gearbeitet habe. Wenn man dann nicht dabei ist …“ Sie führt den Satz nicht zu Ende, aber ihre Enttäuschung ist auch so spürbar, noch immer.

Derweil betrauert Sylvia Schenk die Chancen für den Frauenradsport in Deutschland, die man durch Arndts Finger nun verpasst habe. „Marketingtechnisch ist das eine Katastrophe“, findet die BDR-Präsidentin. Von einer Bestrafung will sie dennoch absehen, die 200 Euro Bußgeld, die der 28-Jährigen vom Internationalen Radsportverband (UCI) aufgebrummt worden sind, seien genug. Zumal Arndt am Abend schon Reue zeigte. „Das ist keine Sache, auf die ich stolz bin. Aber das kann ein normaler Mensch sich nicht vorstellen: Da fährt man so ein wichtiges Rennen – und dann kommen die ganzen alten Geschichten hoch.“ Doch! Man kann sich das sogar sehr gut vorstellen.