Der Gefangene Nummer 338

Noch heute knetet Miguel manchmal gedankenverloren Würfel aus Weißbrot „Ich habe dasselbe Leben geführt wiein Chile, nur mit anderer Kulisse“

aus München CHRISTIAN BLEHER

Als Miguel García Núñez um zehn nach neun auf Radio Magallanes den Präsidenten sprechen hört, weiß er: Es ist aus. Im Bürgerladen der Sozialistischen Partei im Zentrum von Santiago lauscht der junge Chilene der gefassten Stimme Salvador Allendes: „Landsleute, das ist sicher das letzte Mal, dass ich mich an euch wende … Ich werde nicht zurücktreten, ich werde mit meinem Leben die Treue meines Volkes entgelten … Ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird …“

Für den 23-jährigen Miguel und seine Genossen von der sozialistischen Regierungspartei wird in diesem Moment der Weg in eine bessere Zukunft zerstört. An diesem sonnigen Dienstagmorgen des 11. September 1973 rasseln Panzer der Putschisten um General Augusto Pinochet in die Stadt, Militärhubschrauber zerfetzen die Luft über den Arbeitersiedlungen der Vororte, aus „Hawker“-Jägern sirren Bomben auf das Regierungsgebäude. Und aus dem Radio tschinderassabummt mit einem Mal Marschmusik.

Mit einigen Parteifreunden schafft Miguel, Koordinator der Gymnasien von Santiago innerhalb der sozialistischen Studentenbewegung, Mitgliedsdokumente und Parteimaterial aus dem Laden, um alles zu verbrennen. Schon werden Straßensperren errichtet, Passanten kontrolliert und verhaftet. Dennoch macht er sich, wie tausende Anhänger der Linkskoalition Unidad Popular, zu Fuß auf den Weg in die Universität. Er ahnt nicht, dass für ihn und viele andere dort ein fünfmonatiges Martyrium beginnen wird. Dass er gefangen, verhört, eingekerkert, gefoltert werden wird. Und dass er am 24. Februar nach Deutschland entkommen und mit seiner schwangeren Frau Carmen in München wohnen wird. Dass er dort Kameramann werden und 30 Jahre später einen Dokumentarfilm über den Putsch drehen wird. Und dass er zusammen mit anderen Chilenen die „Comisión 30 años“ gründen wird, um im Jahr 2003 an den 11. September zu erinnern.

In der Universität von Santiago weiß niemand, was tun. Fliehen? Doch wohin? Sich gewaltsam verteidigen? Doch mit welchen Waffen? Der Sänger Víctor Jara schlägt vor, mit den Soldaten vor der Uni zu reden. Allende hat noch am Vormittag versucht, telefonisch mit den Generälen zu verhandeln, vergeblich. Verschanzt im brennenden Parlamentsgebäude, einen Helm auf dem Kopf und die Maschinenpistole in der Hand, macht er nun wahr, was er fünf Stunden zuvor angekündigt hat: Er leistet Widerstand. Zum ersten Mal in seinem Leben schießt der Arzt. Die letzten beiden Kugeln jagt er sich selbst durchs Kinn.

Ausgangssperre. Miguel muss mit all den anderen in der Uni übernachten. Am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr stürmen Soldaten das Gebäude. Alle müssen sich auf den Bauch legen. Acht Stunden liegen sie da, die Hände im Nacken. Dann werden sie mit Lastwagen und Bussen in die Sporthalle Estadio de Chile gekarrt. Miguel liegt bäuchlings auf der Ladefläche, auf seinem Rücken steht ein Soldat. Auf dem Weg in die Halle wird Miguel mit Gewehrkolben geschlagen. Als Gefangener Nummer 338 sitzt und schläft er fortan in den Zuschauerrängen. Drei Monate lang, angestrahlt von Scheinwerfern, im Visier der Maschinengewehre.

Ein Junge von zwölf Jahren, der im Schlafanzug eingeliefert worden ist, äfft die Soldaten nach. Miguel ruft „Callate!“ – „Halt den Mund!“. Einer der Soldaten zielt und drückt ab. Auch den Sänger Víctor Jara foltern und erschießen sie, als einen der Ersten von tausenden, im Fußballstadion von Santiago. Schon nach ein paar Tagen hat Miguel ihn nicht mehr gesehen, oben, im Block der Prominenten.

Von den über 5.000, die ins Fußballstadion verschleppt werden, tauchen die meisten nie wieder auf. Über 400.000 werden sich wie Miguel ins Exil retten. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß wird von einem Besuch bei Pinochet gleichwohl mit der Nachricht zurückkehren, die Staatsfeinde Chiles würden lediglich „unfein“ behandelt. Im Bayernkurier wird Strauß versichern: „Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.“ Auch wegen dieser Äußerung wird Miguel Anfang der 80er in München Plakate kleben, auf denen Strauß und Pinochet in trauter Nähe abgebildet sind. Dafür wird er eine Anzeige bekommen. Wegen „Beleidigung eines fremden Staatsoberhauptes“.

Es sind immer dieselben Fragen bei den Verhören in den Garderoben des Estadio: „Wie heißt du?“ Antwort: „Miguel García Núñez.“ Faustschlag in den Magen. Noch mal: „Wie heißt du?“ … „Wen kennst du noch?“ Antwort: „Alle, die hier sind.“ – Faustschlag in den Magen … Miguel, nackt und mit verbundenen Augen, wird beschimpft, geschlagen und getreten.

Im September 2003 sitzt Miguel im Münchner „Café Freiraum“, unter einer Laube in lauer Abendluft. Hier trifft er sonst andere Chilenen aus der „Comisión 30 años“, um drei kulturelle, politische Festtage zu organisieren, mit Jara-Liedern, Dokumentarfilm, Diskussion, folkloristischem Abschlussfest. Heute erzählt er seine Geschichte. Er spricht mit freundlicher, sanfter Stimme. Er lacht oft, manchmal hastig. Er spricht engagiert aber ohne Hass. Spricht mit Gesicht, Händen und Körper. Sackt bei jedem Faustschlag, von dem er erzählt, in sich zusammen. Als stünde er auf einer Bühne. In weißem Hemd, mit Brille, grau meliertem Haar und Schnauzer wirkt er wie der Regisseur in einem Stück mit einem entwurzelten, scheiternden Helden.

Von Mitte Dezember 1973 an lebt Miguel in der „Patilla“, dem berüchtigten Gefängnis der Zivilpolizei von Santiago. Seite an Seite mit über 120 Männern in einem fensterlosen Betonraum von 80 Quadratmetern. Das Licht brennt immer. Abend für Abend rufen sie die Namen derer die Treppe hinunter, die am nächsten Tag gefoltert werden. Viermal wird gerufen: Miguel García Núñez. Viermal mit verbundenen Augen nackt auf einem nassen Metallrost, Elektroden an Zunge, Ohren und Genitalien. Eine männliche Stimme fragt, eine Schreibmaschine klappert, jemand kurbelt am Generator. Unerträgliche Schmerzen und das Angebot: Sag uns drei Namen, und wir lassen dich in Ruhe. Miguel nennt keinen.

Der systematischen Zerstörung setzen die Gefangenen ein System der Solidarität entgegen. An Flucht oder Aufstand ist nicht zu denken. Das Empfangskomitee versorgt Neuankömmlinge mit Informationen und Zigaretten, Marke „Hilton“. Die Hygienekommission putzt das Klo und schrubbt den Boden. Die Unterhaltungskommission bastelt aus Orangenschalen ein Dominospiel, knetet Würfel aus Brotteig. Noch 30 Jahre später wird Miguel manchmal beim Frühstück gedankenverloren Weißbrot in Würfel verwandeln. Die Medizinkommission hat die schwierigste Aufgabe: Wenn die Männer vom Verhör zurückkommen, wollen sich manche umbringen, hämmern den Kopf gegen die Wand. Immer ist jemand da, der sie hält, der sie tröstet.

Noch in den ersten Jahren in Deutschland plagt sich Miguel mit Albträumen, aber auch mit Schuldgefühlen: „Was mache ich hier in Deutschland? Ich sollte in Chile sein und kämpfen.“ Er hatte ja nichts anderes gekannt. War schon mit 17 ein glühender „Allendista“ und selten in der Schule. Organisierte als Anführer der Sozialistischen Schülervereinigung von Santiago unter anderem die „Trabajos Voluntarios“, Kolonnen Freiwilliger, die in den Süden fuhren, um den Campesinos bei der Ernte zu helfen. Am Hauptbahnhof sangen zum Abschied der Brigaden Víctor Jara und die Gruppe Inti-Illimani. „Das war ein Traum“, sagt Miguel.

Und nun, ein halbes Jahr nach dem Putsch, Deutschland. Sackgasse in die Freiheit. Statt mit Carmen und Sohn Nikolai ein Familienleben zu beginnen, versucht Miguel mit anderen Exilchilenen aus ganz Europa eine sozialistische Partei aufzubauen. Ständig nächtigen Genossen bei den Garcías, sind Konferenzen und Demos in ganz Deutschland zu organisieren. 1975 tritt Miguel mit neun anderen am Sendlinger Tor in einen achttägigen Solidaritätshungerstreik, um ebenfalls hungerstreikende Gefangene und Angehörige in Santiago zu unterstützen. „Ich habe 100 Prozent für die Politik gelebt, habe dasselbe Leben geführt wie in Chile, nur mit anderer Kulisse.“ Als er dann auch noch für die linke Musikkneipe „Peseta Loca“ lebt, ist zumindest der Traum von der Familie ausgeträumt. Miguel ist inzwischen ein zweites Mal verheiratet.

1991 kehrt Miguel erstmals zurück nach Chile. Auf eigene Kosten produziert er einen 45-Minuten-Dokumentarfilm mit Hinterbliebenen von Opfern der Diktatur. Titel: „No a la impunidad“ – „Nein zur Straffreiheit“. Gezeigt wurde er nie. Schulden hat Miguel noch heute. Den vorerst letzten Versuch, die verlorene Heimat wiederzufinden, unternimmt er 1994. Er geht für drei Jahre nach Santiago. Über mehrere Wochen dreht er im Auftrag der Polizei, die inzwischen der neuen Regierung dient. Sitzt sogar mit Uniformträgern in der Kantine beim Essen. Eines Tages blickt er seinem freundlichen Auftraggeber hohen Ranges in die Augen und fragt ihn: „Hast du mich vielleicht geschlagen? Hast du mich gefoltert?“ Er bekommt keine Antwort.

An der Überzeugung, jeder Mensch habe etwas Gutes in sich, hält er fest. Das hat er selbst im Februar 1974 getan, in den Folterkellern der Junta, ohne zu wissen, wann und wie die Qualen ein Ende haben würden. Die Erlösung für Miguel ist damals überraschend gekommen: Nach zwei Monaten „Patilla“, am 12. Februar 1974, wird er auf Druck des kirchlichen „Komitees für Frieden“ entlassen. Miguel schafft es in ein Lager der UNO für ausreisewillige Ausländer, gibt sich als Argentinier namens Jorge Sapag aus. Es gelingt ihm, sich innerhalb von zehn Tagen den argentinischen Akzent anzueignen und den UNO-Kommissar von seiner neuen Identität zu überzeugen. Mit zehn weiteren Scheinargentiniern wird er am 23. Februar für einen Flug nach Deutschland eingeteilt. Am Flughafen von Santiago steht die Lufthansa-Maschine bereit, fünfzig Meter vom Check-in entfernt.

Plötzlich erkennt ein Polizist eine junge Frau aus der Gruppe wieder. Er sagt: „Du bist Chilenin!“, und greift schon zum Telefon. „Alles aus“, denkt Miguel. Da macht der Begleiter aus der deutschen Botschaft Druck. Er erklärt, dass die Maschine unverzüglich starten muss. Diskussionen. Warten. Auf einmal hebt der Deutsche den Daumen. Die Gruppe begibt sich sofort auf das Rollfeld. Fünfzig Meter zur Gangway. Als das Flugzeug abhebt, erleidet die Frau einen Nervenzusammenbruch. Miguel und seine Freunde trösten sie. Nach drei Zwischenstopps landet die Maschine in München.