Die Achse der Herausforderer

Als ein animierter Bush über die Leinwände tanzt, beginnen die Leute „Hey hey, goodbye“ zu singen

aus Washington MICHAEL STRECK

Timothy Decker sitzt vor der aufgeschlagenen Zeitung. „Bush will 87 Milliarden Dollar mehr für den Irak“, lautet die fett gedruckte Überschrift. „Woher will er das Geld nehmen?“, fragt er erregt und fuchtelt dabei mit den Armen. Die Basketballmütze ist in den Nacken geschoben. Graue Haarbüschel quellen über den Ohren heraus. Der massige Mann trägt ein weites lilafarbenes T-Shirt, auf dem „stronger together“ steht. Decker ist 53 Jahre alt und betreut in New Hampshire jugendliche Strafentlassene. Ständig wird das Geld für dieses Programm gekürzt – auch für Schulen, Hospitäler und Bibliotheken in seinem Bundesstaat gibt es immer weniger. „Bush muss weg. Der ruiniert unser Land, unsere Kommunen.“

Für dieses Ziel ist der Gewerkschaftsaktivist nach Washington gekommen. Zwei Tage lang wird er mit 1.500 Gleichgesinnten auf einer „Political Action Conference“ beraten, wie man George W. Bush aus dem Weißen Haus jagen kann. Decker wird etwas früher abreisen, da er seinen Sohn am „Ground Zero“ treffen will zum zweiten Jahrestag der Anschläge vom 11. September. Nein, der Terror ist nicht vergessen, auch wenn es hier vorwiegend um Innenpolitik geht. „Ich unterstütze den Kampf gegen den Terror, will aber auch, dass Geld für soziale Aufgaben bleibt.“ Dann schiebt er sich noch hastig einen Bagel in den Mund und drängt sich in die lila Masse, die in den riesigen Konferenzsaal strömt. Die Chance, fast alle demokratischen Präsidentschaftsbewerber an einem Tag unter die Lupe nehmen zu können, gibt es schließlich nur einmal.

Seit jeher gehört es zum Pflichtprogramm der demokratischen Herausforderer, sich der gewerkschaftlichen Unterstützung zu versichern. In wenigen Minuten werden sie der Reihe nach auf der Bühne erscheinen. Wer die Einladung der Dienstleistungsgewerkschaft Seiu (Service Employees International Union) mit 1,6 Millionen Mitgliedern ausschlägt, dessen Aussichten auf die endgültige Nominierung als Herausforderer von Bush schrumpfen erheblich. Während viele Gewerkschaften in der Bedeutungslosigkeit versinken, ist die Seiu in den vorigen Jahren rasant gewachsen. Sie vertritt Altenpfleger, Krankenschwestern, Gefängnismitarbeiter, Busfahrer, darunter auch viele junge Einwanderer aus Lateinamerika und Asien. Alle Reden werden daher in Spanisch und Mandarin übersetzt.

Die Atmosphäre im Saal ist frustgeladen. In den Augen der Gewerkschafter ist die Regierung zum Handlanger der Industrie und Reichen geworden. Den einst verkündeten „mitfühlenden Konservativismus“ von Bush empfinden sie als blanken Zynismus. Cloreta Morgan, eine zierliche Frau aus Miami, springt auf die Bühne und zählt eine lange Liste seiner gebrochenen Wahlversprechen auf. „Er ist ein Lügner“, schallt eine Antwortwelle durch den Saal. Morgan übergibt das Mikrofon an Andrew Stern, den wortgewandten Seiu-Präsidenten, der aufzählt, wo Bush in der Gesundheitspolitik versagt hat: Die Gesundheitskosten seien 2002 um 12 Prozent in die Höhe geschnellt, eine Rekordzahl von 41 Millionen Amerikanern nicht versichert. „Wir sind die reichste Nation der Welt, und Leute müssen betteln gehen, um sich ihre Medikamente leisten zu können.“

Amerika, das Land der Unpolitischen, der schlaffen Gewerkschaften – nicht hier. Die Spannung steigt. Als erster wird John Edwards erwartet, der jugendliche Senator aus North Carolina, der ein wenig aussieht wie Ricky Martin. Plötzlich dröhnt jedoch John Mellencamp aus den Boxen, dann wird Edwards der Weg durch die Menge gebahnt. Der Millionär und Anwalt gibt sich als Mann der kleinen Leute, erzählt, wie sein Großvater in einer Getreidemühle arbeitete, und konzentriert sich streng auf Wirtschafts- und Sozialthemen. Kein Wort zu Krieg und Terrorismus – rätselhaft angesichts des nahen Jahrestages der Anschläge. Vielleicht ist es aber auch nur Ausdruck der alltäglichen Sorgen der Amerikaner, die um mangelnde Jobs und soziale Absicherung kreisen. Unter Beobachtern gilt Edwards bereits als abgeschlagen, doch hier bekommt er vom Publikum gute Noten. Als er fordert, jedes in den USA geborene Kind solle eine steuerfinanzierte Krankenversicherung erhalten, schafft er es sogar, alle von den Stühlen zu reißen.

Dann ist John Kerry an der Reihe. Er erscheint mit Bruce Springsteens „No Surrender“. Der Titel ist vielsagend. Der einst als Favorit gehandelte Senator aus Massachussets will noch längst nicht das Handtuch schmeißen gegen seinen ärgsten Kontrahenten Howard Dean, den Mann, der die politische Landschaft in den USA momentan durcheinanderwirbelt wie kein anderer. Der aristokratische und unnahbare Kerry mit dem Gesicht einer treuen Bulldogge wuchert vor allem mit einem Pfund: Als Vietnamveteran hofft er, die alte Scharte der Demokraten auszuwetzen, nicht zu wissen, wie man Krieg führt. Kerry fordert, dass die UNO die Befehlsgewalt in Bagdad übernimmt.

Es ist ein Grandprix der Politikentwürfe. Der Applaus ist Zustimmungsindikator. Kerry unterliegt seinem Vorgänger nach Punkten. „Edwards erinnert mich an Bill Clinton, er hat Charme“, sagt die Sozialarbeiterin Rachel Chartier. Dass er nichts zur Terrorbekämpfung gesagt hat, stört sie nicht. In ihrem kleinen Ort an der Westküste in Oregon fühlt sich ohnehin niemand bedroht. Hautnah sind dagegen die wachsenden Probleme mit der Armut. Jeden Tag kann auch Rachel ihren Job verlieren, weil ihr Arbeitgeber, der Staat, in der schwersten Finanzkrise seit den 40er-Jahren steckt. Nur einmal musste sie an Terroristen denken, sagt sie. Als sie gestern mit dem Flugzeug in Washington landete, bekam sie für einen Moment Angst.

In die drei Stockwerke unter der Erde liegenden Veranstaltungskatakomben kommt wieder Bewegung. Die aussichtslose schwarze Kandidatin Carol Moseley Brown besteigt die Bühne. Mit der Stimme einer Soulsängerin bemüht sie sich redlich um die Gunst der Massen, die auch mit Anerkennung nicht sparen. Doch im Saal warten alle längst auf „Doktor Dean“. Kaum ist Carol Brown verschwunden, tanzt ein animierter Bush auf den übergroßen Leinwänden, beginnen die Leute immer lauter „Hey hey, goodbye“ zu singen, dann steht der Exgouverneur aus Vermont am Rednerpult. In wenigen Sekunden geht er zum Frontalangriff über und zerlegt Bushs Rede zum Irak. Außenpolitik wird zu Innenpolitik und umgekehrt. Dean verknüpft das Haushaltsloch, die Misere in der Sozial- und Umweltpolitik mit den Kriegskosten.

Direkt und unverblümt erteilt er allen Demokraten eine Absage, die glauben, nur mit einer Politik „Bush light“ das Weiße Haus erobern zu können. Und immer wieder kehrt er zu zwei Themen zurück: Glaubwürdigkeit und Amerikas Image in der Welt. „Nach dem Fall der Mauer 1989 waren wir das Land der Hoffnung. Heute werden wir gehasst. Dafür ist Bush verantwortlich.“ Der Saal ist elektrisiert. Stehende Ovationen. Viele springen auf die Stühle.

„Das ist mein Mann“, sagt Frank Miskowice in den donnernden Beifall hinein. Der stämmige Schulverwalter aus Minnesota überlegt, ob er sich von seinem Job kommendes Jahr einige Wochen beurlauben lässt, um für Dean zu Hause Wahlkampf zu machen. „Es kann so nicht weiter gehen“, klagt er. In seinem Staat wurden gerade 85 Millionen Dollar für die Unterhaltung öffentlicher Schulen gestrichen und die Grundsteuern erhöht, um die Ausfälle von Bushs gigantischer Steuersenkung zu kompensieren. „Ich dachte immer, Reagan und der erste Bush waren übel. Doch gegen den jungen Bush sind die geradezu heilig.“

Der Saal leert sich. Zurück bleibt für viele das Gefühl, Bush ist schlagbar. Dean ist entgegen allen Erwartungen der neue Politikstar: Er galt nicht nur als wahluntauglich, weil er polarisiert, sondern auch, weil er kein üppiges Vermögen besitzt. Doch Dean schafft es trotzdem zu mobilisieren. Dass später noch andere Kandidaten sprechen, interessiert nur noch wenige. Rasch verbreitet sich stattdessen die Nachricht, dass er am Abend auch an der Universität von Maryland in einem Vorort Washingtons auftritt.

An der U-Bahn-Station wartet eine Menschentraube auf den Shuttle-Bus zur Universität. Viele T-Shirts sind mit „deanforamerica“ bedruckt. Eine halbe Stunde steckt der Bus im Stau. Eine verunsicherte Frau fragt den Fahrer, ob die Straßen hier um diese Zeit immer so voll sind. Er antwortet: „Die wollen alle zu Dean.“