Die zweite Religion

Litauen bezwingt Weltmeister Serbien, zieht ins Halbfinale der Basketball-EM ein und lockt NBA-Späher

STOCKHOLM taz ■ Nachmittags um fünf an der Cocktailbar des Nordic-Light-Hotel in Stockholm. Das Kaminfeuer flackert sanft. Vor Larry B., der auf einem Barhocker sitzt, stehen zwei große Gläser. Mit einem letzten Schluck leert er auch noch das zweite. Nun kann es losgehen, vorbei an den zahlreichen Pressevertretern. Vorbei an den Fans. Vorbei an all diesen Menschen, die ihn nicht vergessen haben, sondern vielmehr noch verehren, als sei er ein zu groß geratenes goldenes Lamm.

Larry Bird, ehemalige NBA-Ikone der Boston Celtics, ist bei der Basketball-EM in Schweden auf der Jagd. Als neuer General Manager der Indiana Pacers versucht er, junge europäische Spieler zu entdecken. Und so tigert er jeden Nachmittag von der Bar durch die schreienden Massen in die Globen Arena. „Ich kenne hier keinen Spieler außer den NBA-Profis“, meint er. Was er nicht als schlimm empfand. Für Bird stand nämlich fest: Dirk Nowitzki (Dallas), Tony Parker (San Antonio), Andrei Kirilenko (Utah) – sind die EM-Stars. Die anderen nur unbedeutendes Beiwerk. Doch der dreifache NBA-Champion, musste sein Urteil revidieren. Parker spielt mit Frankreich bisher nur durchschnittlich. Kirilenko ist mit Russland ausgeschieden. Und auch Nowitzki ist längst draußen.

Es sind andere, die im Mittelpunkt stehen. Seit Litauen Weltmeister Serbien-Montenegro im Viertelfinale aus dem Rennen warf, sind sie mit Frankreich, das Russland bezwang, großer Favorit auf den Titel. Beide Teams treffen morgen schon im Halbfinale aufeinander. Dabei spielte bis jetzt keiner der Akteure Litauens in der NBA. Antanas Sireikas‘ Mannschaft besticht allerdings durch ihre Unberechenbarkeit. „Basketball ist bei uns wie eine zweite Religion“, erläutert Assistenzcoach Gintaras Krapikas. Wie wichtig das Spiel in dem kleinen baltischen Staat ist, zeigt die Geschichte des 2,10-Meter- Hünen Ksistof Lavrinovic, der wohl in keiner anderen Nationalmannschaft der Welt spielen dürfte.

Lavrinovic saß nämlich eineinhalb Jahre im Gefängnis. Wegen Vergewaltigung wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, wegen guter Führung allerdings früher entlassen. Im Gefängnis hatte er eine Sonderstellung. „Das ist normal. Basketball ist in Litauen eben sehr populär“, so Krapikas. Lavrinovic konnte im Gefängnis weiter trainieren. Als er entlassen wurde, nahm ihn die Nationalmannschaft sofort wieder auf. Das Team machte es sich dabei recht einfach. Es beschloss einfach, dass Lavrinovic unschuldig gewesen sei. Doch selbst eine Schuld Lavrinovics wäre der Mannschaft egal. „Bei uns zählt nicht, ob jemand abgerutscht ist“, erläutert Krapikas. „Bei uns zählt, wie man Basketball spielt.“

Die Geschichte von Lavrinovic zeigt dabei nur in Auszügen, wie wichtig dem kleinen Land im Baltikum Erfolg beim Basketball ist. Um ihren NBA-Star Zydrunas Ilgauskas für die EM zu gewinnen, hatte sich selbst der Staatspräsident einen Abend frei genommen. Er wollte bei einem Candle-Light-Dinner den Center der Cleveland Cavaliers überreden. Der 2,21-Meter-Hüne entschied sich dennoch dagegen.

Aber auch ohne Ilgauskas spielen die Litauer stark. „Es gibt immer genug andere“, so Krapikas. Wie sich bisher zeigte, hat er Recht. Kapitän Saulius Stombergas trifft von außen jeden Distanzwurf. Derweil räumt unter dem Korb Eurelijus Zukauskas ab. Zukauskas hat von Donny Nelson, dem Sohn des Coaches der Dallas Mavericks und seit Jahren Litauens Co-Trainer, Sondertraining bekommen. Schon immer legten die Litauer auf eine solide Ausbildung viel Wert. Nur so wurden sie zum Exportschlager der NBA. Bereits nach der EM wird der nächste Spieler nach Amerika wechseln. Darius Songaila wurde von den Sacramento Kings verpflichtet.

Der EM-Titel wäre also kein Zufall. Bleibt zu hoffen, dass auch Bird schnell zwischen zwei Gläsern zu dieser Einsicht kommt. Die anderen Scouts sind schon verdächtig oft im Umkreis der litauischen Mannschaft gesichtet worden, während Larry B. noch immer in Ruhe an seinen Cocktails nippt.

CHRISTOPH BERTLING