Die undiplomatische Diplomatin

Anna Lindh nahm kein Blatt vor den Mund. Scharf griff sie Bush und Berlusconi an. Ein Leben unter dem Schutz von Leibwächtern lehnte sie ab

STOCKHOLM taz ■ Anna Lindh galt als die Nachfolgerin von Ministerpräsident Göran Persson, doch eigentlich wollte sie dies gar nicht werden. „Das würde bedeuten, dass ich mein Privatleben aufgeben müsste. Und das will ich nicht“, sagte sie. Das Leben eines von Leibwächtern geschützten Regierungschefs war ihr eine Horrorvorstellung. Sie genoss es, sich trotz ihres Amtes als Außenministerin frei und unbewacht bewegen zu können. Fast täglich fuhr sie zu ihrem Mann und den zwei Söhnen ins 100 Kilometer südwestlich von Stockholm gelegene Nyköping.

Deswegen haben die SchwedInnen Anna Lindh geliebt. Wegen ihrer Offenheit, Glaubwürdigkeit und Natürlichkeit. Unabhängig von parteipolitischen Überzeugungen galt sie als das mit Abstand populärste Kabinettsmitglied und stellte in letzter Zeit ihren Chef immer deutlicher in den Schatten.

Eine Popularität, die auch auf internationaler Ebene zu funktionieren schien. Dem Rat der EU-Außenminister wird nun eine Kollegin fehlen, die oft vor Freude sprühte, zugleich aber auch keine politische Konfrontation scheute. Scharfe Kritik übte sie vor allem an der Afghanistan- und Irakpolitik von Georg W. Bush, den sie einmal als „einsamen Cowboy“ bezeichnete. Italiens Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi hätte sie am liebsten aus der EU ausgeschlossen, ebenso wie früher FPÖ-Chef Jörg Haider. Unvergesslich auch ein burmesischer Außenminister, der mit hochrotem Kopf fast zu platzen schien, als sie trotz seines mehrfachen Einflüsterns „Myanmar“ stur am Staatsnamen „Burma“ festhielt. Die Namensänderung des Landes durch eine undemokratische Regierung wollte sie nicht akzeptieren. Die Außenministerin dürfte das internationale Ansehen Schwedens so unverwechselbar geprägt haben wie vor ihr nur Ministerpräsident Olof Palme.

Eigentlich wollte Anna Lindh Rechtsanwältin werden, als Juristin gearbeitet hat sie aber nur wenige Jahre. Schon als 12-Jährige schloss sie sich den Jungsozialisten an, ein Jahr später war sie bereits Leiterin ihres Ortsvereins. 1984 wurde sie dann zur landesweiten Vorsitzenden der Jugendorganisation gewählt. Bereits 1982 kam sie erstmals in den Reichstag, seit 1991 saß sie im Führungszirkel der Sozialdemokraten. 1998 machte Persson sie zu seiner Außenministerin, nachdem sie bereits vier Jahre lang Kabinettserfahrung als Umweltministerin gesammelt hatte. In der Euro-Kampagne nahm Lindh Regierungschef Persson schnell das Heft aus der Hand. Es war sie, nicht der Ministerpräsident, die im Endspurt der letzten Tage vor der Abstimmung für die meisten öffentlichen Debatten eingeplant war.

Doch die Euro-Kampagne brachte auch mit sich, dass sie erstmals in ihrer politischen Laufbahn einer scharfen parteiinternen Kritik ausgesetzt war. Grund war ein gemeinsamer Auftritt mit Carl-Henrik Svanberg, dem Chef des Ericsson-Konzerns, in welchem sie vor einem Euro-Nein warnte und für die Drohung der Industrie, für diesen Fall Arbeitsplätze aus dem Lande zu verlagern, Verständnis zeigte. Eine sozialdemokratische Grenzüberschreitung, die noch mehr Aufregung auslöste, als sie in einem Brief mit dem früheren konservativen Regierungschef Carl Bildt bei im Ausland lebenden SchwedInnen für ein Ja warb. Sie erhielt enttäuschte Briefe und wurde bei einer öffentlichen Veranstaltung körperlich angegriffen. Für die Polizei kein Grund, ihren Personenschutz zu verstärken. REINHARD WOLFF