Eine Schraube ohne Ende

Wer das Bekenntnis zu seiner Homosexualität fürchtet, kann Opfer von Erpressern werden. Das weiß nicht nur Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust – darunter litten auch Millionen von schwulen Männern früher – und viele leiden darunter auch heute. Eine Sittengeschichte

von MARTIN REICHERT

Am Rande des Berliner Homoviertels, ein eher spätsommerlicher Mittwochabend nah dem Nollendorfplatz. Ein Familienvater, Typ Rainer Hunold nach einer Diät, aus dem brandenburgischen Luckau verlässt eine Bar in der Motzstraße. Gefolgt von zwei hübschen jungen Männern mit modischer Schmierfrisur, Hosen auf Halbmast, Sneakers. Es könnten seine Söhne sein. Doch das ist unwahrscheinlich, denn weshalb sollte er seine Jungs ausgerechnet aus der „Blue Boy Bar“, einem Stricherschuppen, abholen, um sie zum Fußballtraining zu fahren?

Das Terzett steigt in einen nagelneuen Mercedes Kombi, ein „Baby an Bord“-Aufkleber klebt am Heck. Die Fahrt wird auch nicht in einem Niederlausitzer Einfamilienhaus enden, sondern in einem Berliner Hotel.

Wenn der Familienvater Pech hat, wird er ohne den Benz, doch in Erklärungsnot zu seiner Frau zurückkehren: Die Polizei ermittelt derzeit auch in seinem Fall bundesweit, weil immer wieder schwule Männer von ihren meist jüngeren „Sexualpartnern“ um ihre Autos gebracht werden. Die Täter gehen anscheinend gezielt vor, denn sie drohen ihren Kunden, deren Homosexualität publik zu machen: Entweder du rückst die Schlüssel raus – oder deine Frau erfährt, wie du wirklich drauf bist.

Für Lebenslügen muss offenbar auch heutzutage noch teuer bezahlt werden. Auch der ehrenamtliche CDU-Ratsherr Gottfried Bössen sollte dies am eigenen Leib erfahren: Bössen war klassisch-heterosexuell verheiratet und hatte zugleich ein Verhältnis zu einem jüngeren Mann. Am Anfang war es noch ein freiwilliges Geben, hier mal ein paar Euro, dort ein neues T-Shirt, doch irgendwann kamen beim Geliebten handfeste Forderungen zum Vorschein: Der hielt eines Tages den Ehering seines schwul nur heimlich lebenden Freundes als Pfand unter Verschluss. Bössen solle 2.500 Euro zahlen, „ansonsten landet der Ring bei deiner Frau“.

Das geordnete Leben des Justizbeamten drohte den Bach herunterzugehen. Bössen nahm 25 Kilo ab und war überhaupt mit den Nerven am Ende. Erst während eines Hospitalaufenthalts traute er sich, seiner Frau die Wahrheit zu sagen. Und das war gut so: Dank seines Coming-outs konnte er das Geld behalten, seine anderen Ängste haben sich jedoch zum Teil bewahrheitet: Für den Posten eines Ratsherrn in seiner Heimatstadt wurde er bei einer Neuwahl nicht wieder vorgeschlagen – „es traute sich aber keiner mir zu sagen, dass ich wegen meiner Homosexualität nicht mehr tragbar sei“.

Trostlos, aber wahr: Die Erpresser hatten bei Bössen – politisch nun in der „Arbeitsgemeinschaft lesbischer und schwuler Justizbediensteter“ engagiert – keinen Erfolg. Doch muss der Christdemokrat für seinen Mut einen hohen Preis bezahlen: Er gilt als kaum mehr gesellschaftsfähig, jedenfalls nicht in der CDU. Es gibt sie also noch, die Ängste vor der Enthüllung, schwul zu sein. Und die haben ihre Berechtigung – was das Geschäft von Erpressern nach wie vor so einträglich macht.

Magnus Hirschfeld, Vorkämpfer der Homobewegung, hatte bereits im Jahre 1906 über den „Beruf des Erpessers“ gemutmaßt, dass das Wort Erpressung von Presse komme: Hamburgs inzwischen geschasster Innensenator Ronald Schill glaubte, dass sein Chef mit der Aufdeckung von dessen vermuteter Liaison mit dem amtierenden Justizsenator gepresst, also bedroht werden könne.

Was der rabiate Innensenator nicht kalkulierte, war, dass die Zeiten nicht mehr illiberal wie einst sind und ein Ole von Beust sich deshalb nicht beugen würde. Denn mindestens seit Klaus Wowereits öffentlichem Bekenntnis, schwul zu sein und dies auch noch gut zu finden, hat sich das Klima für Homoerpresser im politischen Raum (nicht nur in den rot-grünen Milieus) deutlich abgekühlt. Auch deshalb verkörpert Schill das Zwielicht, in das er Ole von Beust stellen wollte.

Und zugleich wirkte der Exsenator wie ein Wiedergänger aus den Zeiten Kaiser Wilhelms, als das Deutsche Reich von der Eulenburgaffäre erschüttert wurde: Hatte Philipp Fürst zu Eulenburg, engster Vertrauter des Kaisers, homosexuellen Verkehr gehabt oder nicht? Eine Frage, von der damals die gesellschaftliche Reputation abhing – und in jenem Fall zugleich er Ruf des Hauses Hohenzollern.

Rund hundert Jahre später wurden Schills denunziatorisch gemeinte Mutmaßungen über Sexualgeräusche in des Bürgermeisters Wohnung eher als Zumutung empfunden. Schlechte Zeiten für Erpresser: Der Wandel des gesellschaftlichen Klimas und des Rechts entzieht ihnen nach und nach die Erwerbsgrundlage, die vor allem aus der Angst ihrer Opfer bestand: der Angst, sich strafbar gemacht zu haben, der Angst, dass das schwule Leben bekannt wird in der Öffentlichkeit, in der Familie, am Arbeitsplatz. Der Angst, zum Paria zu werden.

Den Paragrafen 175 gibt es nicht mehr, die Angst vor Bloßstellung steckt bei vielen Homosexuellen noch tief in den Knochen. Erpressbar ist und bleibt, wer sich mit Lügen und Teilwahrheiten durchs Leben schlägt. Dazu gehört die Lebenslüge vieler Politiker, dass die Sexualität „Privatsache“ sei. Im Bundestag gibt es nur zwei offiziell geoutete Schwule, die FDP-Fraktion scheint – die Homoszene lacht – homofreie Zone.

Erst recht als Unionspolitiker empfiehlt es sich anscheinend weiterhin, die Legende vom „eingefleischten Junggesellen“ aufrechtzuerhalten, auch wenn Alexander Vogt von der Gruppe der Lesben und Schwulen in der Union meint, dass, so wörtlich, „es“ bei den meisten Politikern intern bekannt sei.

Die neulich von Kardinal Joseph Ratzinger, Chef der römischen Glaubenskongregation, publizierte Philippika gegen Schwule und Lesben zeigt erneut, weshalb homosexuelle Christdemokraten sich mitunter in zweifelhafte Situationen manövrieren. Das Pamphlet bezeichnet den Kampf gegen die Homoehe als sittliche Verpflichtung – der sich anscheinend auch protestantische Politiker nicht entziehen wollen: Hamburg – mit Bürgermeister Ole von Beust an der Spitze – votierte gegen die eingetragene Lebenspartnerschaft.

Eine Schizophrenie mit Tradition: Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte der schwule Zentrumsabgeordnete Kaplan Dasbach aus der Bischofsstadt Trier, nur knapp einer Verurteilung wegen Homosexualität entronnen, für die Beibehaltung des Paragrafen 175 gestimmt. Genau wie sein Fraktionsfreund, die „schwarze Ida“ (Szenename) aus Aachen. Nachdem dessen Homosexualität ruchbar geworden war, musste er sich vom geliebten Berliner Nachtleben in den Vatikan zurückziehen.

Man muss nicht Mitglied einer konservativen Partei sein, um erpressbar zu sein. Auch die vielen Lesben und Schwulen, die sich immer noch scheuen, am Arbeitsplatz nicht den oder die ScheinheterosexuelleN zu geben, gehen ein hohes Erpressungsrisiko ein.

Der Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Berliner Polizei, Kriminalhauptkommissar Uwe Lüher, weiß: „Erpressung spielt zwar gegenüber zunehmenden Fällen von Körperverletzung und Beleidigung eine untergeordnete Rolle, kommt aber dennoch ein bis zwei Mal im Jahr vor.“ So hatte im vorigen Jahr ein Stricher seinem verheirateten Freier gedroht, zu Hause und am Arbeitsplatz „Bescheid“ zu sagen. Lüher kennt auch Fälle von ehemaligen Beziehungspartnern, die ihren Verflossenen unter Druck setzen: Entweder du kommst zu mir zurück oder ich oute dich am Arbeitsplatz. In einem Fall konnte das Stalkingopfer die Briefe an den Arbeitgeber gerade noch abfangen – angstschweißgebadet.

Von anderen Dimensionen berichtet Bastian Finke vom schwulen Überfalltelefon des Berliner Mann-O-Meter: „Die offiziellen Polizeiangaben sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir wissen von viel mehr Erpressungsversuchen. Aber die gelangen nur selten zur Anzeige“ – weil es den Opfern an Mut fehlt.

Vor zwei Jahren gab es einen spektakulären Fall, bei dem ein verheirateter Mann um insgesamt sechzigtausend Euro gebracht wurde, bevor er – ermutigt durch das Team von Mann-O-Meter – schließlich zur Polizei ging. Die Täter hatten gedroht, „es“ seiner Frau zu sagen. Für den in die Enge getriebenen Mann war dies Grund genug, sich von seinem Ersparten zu trennen. Mehr als diese Summe konnte er allerdings für eine intakte bürgerliche Existenz nicht aufbringen, ohne sich zu verschulden.

„Die schöne schwule Welt als eine einzige rauschende Party, das existiert so nicht“, sagt Bastian Finke. Vielmehr gebe es auch in Berlin ein „regelmäßiges Erpressungsaufkommen“, besonders betroffen seien Männer in höheren Positionen: „Leute, die glauben, sehr viel verlieren zu können.“

Dabei lebt es sich nicht unbedingt erst ungeniert, wenn der Ruf gänzlich „ruiniert“ ist: Die Polizei ist nicht nur verpflichtet, allen Erpressungsfällen nachzugehen, sie hat den Fall auch diskret zu behandeln. Der Arbeitgeber muss also gar nichts davon erfahren. Wer hingegen auf die Forderungen der Erpresser eingeht, riskiert, immer wieder zur Kasse gebeten zu werden.

Bereits zu wilhelminischen Zeiten unterzeichneten Erpresser die Briefe an ihre Opfer mit der Zeile „Es grüßt dich deine Schraube ohne Ende“ – was bis heute gilt, wie Manfred Edinger vom Münchner Homozentrum SUB warnt: „Die Hoffnung, dass der Täter aufhört, bewahrheitet sich selten.“ Der Psychologe verweist zudem auf den schmalen Grat zwischen Mobbing und Erpressung: Stell dich nicht so an, sonst erfährt die ganze Firma, was mit dir los ist – von der Hänselei bis zur kalten Erpressung ist es mitunter nicht weit.

Vor fünf Jahren ergab eine Umfrage, nur zwölf Prozent der Schwulen und Lesben könnten sich ein Outing am Arbeitsplatz vorstellen. Der Nürnberger Bankfachwirt Volker Kern schätzt, dass in seinem Bereich die Hälfte der homosexuellen Angestellten unnötig diskret bleiben möchten.

Über den letzen Erpressungsversuch konnte der mittlerweile als Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbands Deutschlands in Bayern tätige Kern nur noch lachen: Kunden hatten erhofft, ihre Kreditlinie hochtreiben zu können, indem sie ihm mit Outing am Arbeitsplatz drohten. Kern tippte als Reaktion auf diesen Banküberfall einen Kollegen an: „Weiß jemand nicht Bescheid über mich?“

Bei der Bundeswehr gibt es ebenfalls nichts mehr zu holen: Vorbei die Zeiten, in denen man als Schwuler in der Armee mit Zwangsversetzung und Entlassung rechnen musste. Noch der vermeintlich homosexuelle Nato-General Günter Kießling war Anfang der Achtzigerjahre entlassen worden, weil er, so der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU), erpresst werden könnte – nicht weil er erpresst wurde. Nur fünfzehn Jahre später ging der wegen seiner unverschwiegenen Homosexualität zwangsversetzte Oberstleutnant Winfried Stecher bis nach Karlsruhe, um seine Rehabilitation zu erwirken. Erfolgreich, denn 2001 wurde ein neuer Erlass verfügt. Seither ist beim „Bund“ die Sexualität „grundsätzlich Privatsache“: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.

Ein Fortschritt für die Bundeswehr, der Homosexuelle bis dato als „nicht geeignet für Führungsaufgaben“ gegolten hatten. Allerdings trauen sich dort die meisten Schwulen noch immer nicht, zu ihrer Sexualität zu stehen: „Viele wollen sich einfach dem Spott nicht aussetzen“, sagt Alexander Schüttpelz vom Arbeitskreis homosexueller Angehöriger der Bundeswehr: ein weites Feld für Kriminelle, die ihr Geld mit der Angst vor Bloßstellung verdienen.

MARTIN REICHERT, 30, Historiker und freier Journalist, lebt unerpressbar schwul in Berlin. Er empfiehlt Michael Jungbluts jüngst erschienenes Buch „Famose Kerle. Eulenburg – eine wilhelminische Affäre“ (Männerschwarmskript, Hamburg 2003, 308 S., 19,90 Euro)