Ganz der Alte

Er strauchelt nicht, er stottert nicht, er sieht sogar vergnügt aus. Peter Struck ist dem Reich der Spekulationen wieder entstiegen, als wäre nichts gewesen

Wie sieht er aus? Spricht er so wie früher? Ist dem Gang etwas anzumerken? Zwei Herzinfarkte. Aber macht Struck das ungeeignet für das Amt des Ministers?

AUS APPEN BETTINA GAUS

Großes Drama. Ein Wagen brennt lichterloh, in einem anderen Autowrack ist ein Verwundeter eingeklemmt und schreit vor Schmerzen. Weitere Verletzte liegen blutend im Gras. Ein furchtbares Schauspiel, aber wenigstens naht Hilfe: Bundeswehrsoldaten kümmern sich um die Opfer, umsichtig und streng nach Vorschrift. Den 95 Medienvertretern, die sich auf der Wiese neben einem kleinen Birkenwäldchen versammelt haben, wird einiges geboten. Aber kaum jemand schaut hin.

Die Journalistinnen und Journalisten sind ja nicht per Hubschrauber nach Schleswig-Holstein gereist, um Einzelheiten über die Ausbildung von Unteroffizieren zu erfahren. Ihre konzentrierte Aufmerksamkeit gilt einem einzigen Mann: Peter Struck. Um ihn zu beobachten, hätten sich die Kamerateams auch geduldig vor einem Einödhof in der Eifel oder auf einer Bohrinsel in der Nordsee aufgebaut. Die Geschichte wäre hier wie da wie dort ohnehin immer dieselbe gewesen.

Normalerweise hält sich das öffentliche Interesse in überschaubaren Grenzen, wenn sich der Verteidigungsminister im Sommer auf den Weg in die Provinz macht, um seine traditionellen Truppenbesuche zu absolvieren. Der Nachrichtenwert der Standortbesichtigungen ist meist gering, und besonders groß ist die Neugier der Medien auch auf die Unteroffiziersschule der Luftwaffe in Appen nicht, so eindrucksvoll die Übung „Retten und Bergen“ sein mag.

Die Reporter richten ihr Augenmerk auf anderes. Wie sieht Peter Struck aus? Spricht er so wie früher? Ist seinem Gang etwas anzumerken? Hat er seine Hände unter Kontrolle? Selbst einen gesunden Menschen kann es ins Straucheln bringen, wenn er weiß, dass alle seine Gesten und jeder seiner Schritte genau verfolgt und akribisch analysiert werden. Peter Struck strauchelt nicht, er stottert nicht, er sieht entspannt und vergnügt aus. Aber ist er wirklich ein gesunder Mann? Das ist die Frage, um die es geht und über die in Appen ein öffentliches Urteil gefällt wird.

Wie natürlich auch der Minister weiß. Ein nur scheinbar harmlose Frage wird zur treffsicheren Pointe: „Wie geht’s Ihnen?“, ruft er gleich nach seiner Ankunft den Journalisten zu. Gelächter. Dann fügt Struck ungefragt hinzu: „Mir geht es gut.“ Er habe eine Krankheit gehabt, „die man nicht leicht nehmen darf und die ich auch nicht leicht genommen habe“. Nun ist er den Angaben seiner Ärzte zufolge kuriert. „Ich sehe jetzt mit Freude meinen Aufgaben entgegen“, sagt Struck.

Der Verteidigungsminister hat die Flucht nach vorne angetreten. „Ich habe in der Nacht vom 9. zum 10. Juni einen leichten Schlaganfall erlitten“, sagte der 61-Jährige am Tag vor der Sommerreise der Bild-Zeitung und bestätigte damit nur, was im politischen Berlin sowieso alle wussten und einige Medien auch ziemlich unverblümt geschrieben hatten: dass es nämlich keine Kreislaufschwäche gewesen war, die Struck zwei Monate lang von seinem Schreibtisch ferngehalten hatte. Diese offizielle Begründung für die Zwangspause war hilflos und ungeschickt gewesen – niemand hatte geglaubt, dass ein Minister nach einem leichten Schwächeanfall wochenlang der Schonung bedarf.

Dessen Sprecher Norbert Bicher hat jetzt einen schweren Stand. Dass das Bild-Interview den Nachrichtenwert der Reise nach Appen erheblich mindert, finden die meisten Reporter vor Ort wenig begeisternd. Dass Bicher noch vor kurzem alle Spekulationen über den Gesundheitszustand von Struck als „perfide“ bezeichnete, hat ihn nicht populärer gemacht. Daran ändert auch der Hinweis des Ministers nichts, er habe seinen Pressestab gebeten, „so zu agieren, wie er agiert hat“.

Manche Journalisten nehmen Norbert Bicher einfach übel, dass er ihnen nicht schon längst reinen Wein eingeschenkt hat. Sie hätten sich, wie sie versichern, doch ganz gewiss an das Gebot der Vertraulichkeit gehalten. Das mag so sein. Aber welchen Wert hätte die Aufklärung dann überhaupt gehabt, sieht man von dem verständlichen Wunsch ab, zum Kreis der Eingeweihten zu gehören? Es gibt Reporter, die gelegentlich zu vergessen scheinen, dass ministerielle Öffentlichkeitsarbeit nicht in erster Linie ihrer eigenen Unterrichtung dient. Sondern der Information der Allgemeinheit.

Allerdings lässt sich darüber streiten, was im Einzelfall eigentlich unter Information zu verstehen ist. Als die „Verwundeten“ geborgen und das Auto gelöscht ist, drängt sich sofort ein dichter Pulk von Journalisten um den Verteidigungsminister. Größer könnte das Interesse auch nicht sein, wenn er plötzlich seinen Rücktritt erklärte oder Ambitionen auf das Amt des Bundeskanzlers erkennen ließe. Dabei ist das, was er im so genannten informellen Gespräch mit den Reportern zu sagen hat, bei Lichte besehen so Aufsehen erregend nicht: „Es ist schön, wieder da zu sein.“ Und: „Es geht einem auf den Geist, wenn man sich nicht körperlich betätigen darf.“ Das stimmt gewiss. Aber muss man das wirklich wissen?

Welchen Anspruch hat diese Allgemeinheit auf welche Information? Wo beginnt die Privatsphäre, auf die auch ein Politiker ein Anrecht hat, und wie weit geht die Pflicht zur Offenlegung persönlicher Angelegenheiten, wenn sie Amtsgeschäfte berühren? Ein Verteidigungsminister, der ja gerade in diesen Zeiten schließlich auch die Verantwortung für Soldaten in Auslandseinsätzen trägt, muss im Vollbesitz seiner Kräfte sein, und wenn er das nicht ist, dann hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, das zu erfahren: So oder ähnlich war das in den vergangenen Wochen in Zeitungen zu lesen gewesen. Das klingt wunderbar einleuchtend, ziemlich staatstragend und etwas pathetisch. Dem lässt sich eigentlich gar nicht widersprechen – jedenfalls dann nicht, wenn man meint, zwischen Gesundheit und Krankheit verlaufe eine scharfe Grenze, die sich klar definieren lässt. Das ist nun allerdings ist ein recht altmodisches Verständnis der menschlichen Natur.

Wann ein Mensch krank ist und wann gesund, hängt weitgehend von der Definition ab. Ist jemand krank, der regelmäßiger ärztlicher Betreuung bedarf? Eine deprimierende Nachricht für viele Allergiker, Diabetiker und weite Teile der Restbevölkerung. Oder muss eine Krankheit entweder bedrohlich oder akut sein, damit der Betroffene als Kranker bezeichnet werden kann? Ist ein Dialysepatient als Minister ungeeignet? Dass Wolfgang Schäuble nicht Kanzler geworden ist, lag nicht am Rollstuhl. Oder doch?

Ist jemand gesund, der eine lebensgefährliche Erkrankung ohne erkennbare Folgeschäden überwunden hat? Wie definiert sich jemand, bei dem zwei Jahre nach einer Chemotherapie der Krebs noch nicht zurückgekommen ist? Über welche Konstitution muss ein Politiker verfügen? Über eine bessere als eine Lehrerin, die über Zukunftschancen von Kindern entscheidet, oder ein Chirurg, von dessen handwerklichen Fähigkeiten das Leben seiner Patienten abhängt? Peter Struck hat bereits zwei Herzinfarkte überstanden. Macht ihn seine Anamnese ungeeignet für sein Amt? Hätte sich die SPD sich von einem ihrer letzten Hoffnungsträger verabschieden sollen?

Der Schlaganfall des Verteidigungsministers hätte ein guter Anlass für die Gesellschaft – und für die Medien – sein können, sich mit dem Thema Krankheit anders auseinander zu setzen als im kleinteiligen Raster zwischen Praxisgebühr und Sterbegeld. Allerdings verdrängt die Gesellschaft diese Problematik gerne. Die peinliche Geheimniskrämerei im Zusammenhang mit der Erkrankung von Peter Struck hat ihr das erleichtert. Die Diskussion ist nicht geführt worden.

Wochenlang bewegten sich stattdessen viele Spekulationen und Überlegungen im vertrauten Bereich des Klatsches: Schröder habe nicht gewollt, dass Struck zurückkehre, weil ihm dessen Abschied vom Amt die längst überfällige Kabinettsumbildung ermöglicht hätte. Quatsch, der Kanzler wolle derzeit gar keine Minister austauschen, der musste ganz dringend wünschen, dass Struck gesundet. Vielleicht hat Gerhard Schröder das ja auch ganz ohne taktische Erwägungen gewünscht. So etwas soll vorkommen.

Nun ist der Verteidigungsminister also wieder da, und es scheint ihm gut zu gehen. Er findet, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat, aber nicht auf seine Röntgenbilder, und er hält den Zeitpunkt, zu dem er über seine Erkrankung sprach, nach wie vor für richtig. Zumal ja jetzt alles fast wieder genauso sei wie vorher. Er wolle wieder mit ganzer Kraft arbeiten, nicht auf kleinerer Flamme kochen als vorher. Volle Power. „Aber ohne Pfeife.“ Auf das Rauchen behauptet er künftig verzichten zu wollen. Einer, der ihn gut kennt, glaubt daran nicht. Er meint, es werde alles beim Alten bleiben.