berliner szenen Kein Mädchen

An der roten Ampel

Rosenthaler Platz. Ampel. Rot. Er sitzt da auf seinem Motorrad. Naja, Motorrad, es ist mehr ein kleines Ding, für ein richtig tolles, großes Bike hat es bislang wohl noch nicht gereicht. Er sitzt jedenfalls auf seiner Maschine, wartet auf das grüne Licht und spielt am Gas. Brumm. Brumm. Er ist so um die dreißig, doch er fühlt sich offensichtlich jünger. Wäre ich ein Mädchen, ich würde mich in ihn verlieben.

Denn er sitzt auf seiner Maschine, zeigt, dass der Motor Kraft hat, so viel Kraft, und er auch: Kraft, Kraft. Und während er Kraft demonstriert, schließt er die Augen. Brumm. Brumm. Das klingt schon fast wie eine richtig tolle, große Maschine. Das klingt wie Freiheit.

Ich weiß, er sieht sich über Landstraßen hinwegbrausen, bei einer wilden Landpartie, er rast Richtung Brandenburg, oder er lässt Balgstädt links liegen um rasch nach Abtlöbnitz zu gelangen, um Freunde zu besuchen oder sich ein schüchtern-verliebtes Frauenlächeln abzuholen, brumm brumm, saus saus! Die Straße ist frei, er kann 180! Und wie die Leute ihm nachsehen, wenn er fährt, Dennis-Hopper-gleich, wild, frei, gefährlich! Tatsächlich, die Leute sehen ihm auch nach – genauer, sie sehen ihn an.

Denn er bewegt sich nicht. Doch die Ampel zeigt Grün. Die Autofahrer, die eben hinter ihm warteten, erkennen jetzt das Problem und umrunden ihn sanft. Er hat dieweil die Augen geschlossen, ist der Welt entrückt und saust und braust tief in sich drinnen, brumm brumm. Dann öffnet er endlich die Augen. Einer hupt. Die Ampel wird gerade wieder rot. Er auch. Ich lächle ihn an. Doch ich bin kein Mädchen. Er lächelt nicht zurück. Jetzt wird es wieder grün. Er gibt Gas. Und pröttert davon. Brumm. Brumm.

JÖRG SUNDERMEIER