Medikament vor Ort, Patient tot

Bei der WTO-Konferenz gerät der Kompromiss über den Import von Generika-Arzneimitteln erneut in die Kritik. Nichtregierungs-Organisationen fürchten, dass die vereinbarten bürokratischen Hürden die Lieferungen entscheidend verzögern werden

aus Cancún ANDREAS ZUMACH

„Ärzte ohne Grenzen“, Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen haben am Rande der WTO-Konferenz ihre Kritik am Kompromiss im Konflikt zwischen dem Patentschutz für Medikamente und einer gesicherten Gesundheitsversorgung auch in armen Ländern des Südens bekräftigt. Die Vereinbarung war Ende August erreicht worden. Vertreter der EU und der USA priesen den Kompromiss hingegen erneut als Beweis dafür, dass die vor zwei Jahren in Doha ausgerufene Verhandlungsrunde sich auf Entwicklungsthemen konzentriere, und als einen „Fortschritt“, der die Chancen auf Einigung auch in anderen Streitfragen erhöhe.

Nach fast zweijährigen Verhandlungen hatten sich die Botschafter der 146 WTO-Staaten in der Genfer WTO-Zentrale auf die Bedingungen geeinigt, unter denen arme Länder des Südens ohne ausreichende eigene Kapazitäten zur Pharmaproduktion künftig zur Bekämpfung von Aids, Malaria und anderen epidemischen Krankheiten so genannte Generika aus dem Ausland importieren dürfen. Diese Abmachung wird aller Voraussicht nach in Cancún nicht mehr verändert werden. Generika sind preiswerte Kopien von Markenprodukten multinationaler Pharmakonzerne, die unter Patentschutzbestimmungen der WTO fallen, die so genannten Trips (Trade related property rights). Bislang produzieren vor allem Brasilien, Indien und Südafrika derartige Generika für den einheimischen Bedarf.

Nach dem in Genf erzielten Kompromiss muss ein Land im konkreten Bedarfsfall – z. B. bei Auftreten einer Cholera-Epidemie – zunächst den Trips-Ausschuss der WTO offiziell darüber informieren, dass es keine ausreichende eigene Kapazität zur Produktion von Cholera-Medikamenten hat und daher eine Zwangslizenz für den Import von Generika erteilen möchte. Sodann muss das Land gegenüber dem Trips-Ausschuss exakt die benötigte Menge angeben sowie das Land, aus dem es die Generika importieren will.

Der Trips-Ausschuss muss daraufhin seine Genehmigung erteilen. Danach darf nur die angegebene Bedarfsmenge auch tatsächlich hergestellt und importiert werden. Dabei müssen die Packungen der gelieferten Generika in jedem Einzelfall gesondert gekennzeichnet werden. Auf diese Weise soll der von den multinationalen Pharmakonzernen besonders befürchtete Reimport der Generika unmöglich gemacht oder zumindest erheblich erschwert werden.

Die Nichtregierungsorganisationen (NRO) befürchten, dieses „hochkomplizierte, bürokratische, unflexible und langwierige Verfahren“ werde die Versorgung bedürftiger Menschen in armen Ländern des Südens mit dringend benötigten Medikamenten erschweren statt erleichtern. „Bis die Medikamente endlich vor Ort sind – falls ihre Lieferung durch einen Einspruch im Trips-Ausschuss nicht völlig verhindert wird –, sind die Patienten längst tot“, kritisiert Michael Frein, Autor einer in Cancún vorgelegten Studie des Evangelischen Entwicklungsdienstes. „Hauptziel des Kompromisses“, so Frein zur taz, sei „nicht die Sicherstellung der Versorgung Bedürftiger mit Medikamenten, sondern die Kontrolle und weitgehende Unterbindung des Handels mit Generika“. Die Situation wird sich nach Einschätzung der NRO noch erheblich zuspitzen, wenn ab 2005 nach den Trips-Regeln der WTO alle neue Medikamente in sämtlichen Staaten der Erde – mit Ausnahme der 48 am wenigsten entwickelten Staaten – für 20 Jahre unter Patentschutz gestellt werden müssen.