„Leute werden wieder politisch“

Hartz IV zeigt, dass nach der ersten friedlichen Revolution 1989 noch die zweite fehlt: eine soziale und mentale Revolution, meint Nikolaikirchen-Pfarrer Führer

taz: Herr Führer, Rot-Grün hat Zugeständnisse bei Hartz IV gemacht, trotzdem haben in Leipzig 20.000 Menschen demonstriert. Enden die Proteste erst, wenn das ganze Gesetz kippt?Christian Führer: Es müssen noch einige Härten entfernt werden. Ich bin allerdings gegen die Losung „Hartz IV muss weg“, das ist Populismus. Der morbide Stillstand in diesem Land kann nicht so weitergehen. Die Frage ist auch, was käme danach? Das wären doch die CDU mit Hartz hoch zwei oder die PDS, die eigentlich gar kein Programm hat.

Haben Sie das schon mal den Demonstranten gesagt? Oder heben Sie sich das für den 30. August auf, wenn Sie sich mit einem Friedensgebet erstmals offiziell beteiligen wollen?

Bis zum 30. August halte ich vor jeder Montagsdemo eine Art Mini-Friedensgebet vor bis zu 300 Menschen. Beim nächsten Mal kann ich mir vorstellen, nicht nur über Nachteile, sondern auch über Vorteile von Hartz IV zu reden. Als Pfarrer kann ich unpopuläre Dinge sagen.

Braucht eine Montagsdemo 2004 Sie, den Vater der Montagsdemos von 1989?

Natürlich nicht, und ich bin auch nicht der Vater der Montagsdemonstrationen. Da waren sehr viele Menschen dabei. Aber eine Montagsdemonstration braucht ein Friedensgebet. Ich möchte nicht, dass es Gewalt gibt. Es ist Besorgnis erregend, wenn in Magdeburg auf die Autos von Landtagsabgeordneten getrommelt wird. Ich möchte, dass die Menschen Hartz IV differenziert sehen. Das zu erklären, ist Aufgabe der Kirche. Dort besinnen sich die Menschen und gehen dann auf die Straße. Das ist das Modell 1989.

Auf die Demonstrationen 1989 folgte die Wende, was wollen Sie heute?

Hartz IV erinnert uns daran, dass nach der ersten friedlichen Revolution 1989 noch die zweite fehlt. Eine soziale und mentale Revolution.

Viele Demonstranten wollen einen Regierungssturz.

Das ist doch Unsinn. Aber Manager stopfen sich die Taschen voll, das Gericht gibt ihnen Recht und dann zeigen sie das Victory-Zeichen. Politiker haben die Protestierenden auf der Straße belächelt. Das ist die Arroganz, die nur der Reichtum verleiht. So darf das Miteinander in diesem Land nicht bleiben. Jetzt ist der Druck von unten oben angekommen. Es bewegt sich etwas, die Politik kann sich nicht mehr hinter windigen Formulierungen verstecken. Die Leute werden wieder politisch.

Aber wie lange noch. Auch Sie bieten den Menschen kein konkretes Ziel, für das sie protestieren können. Manche Politiker fordern jetzt, die Steuern für die Reichen nicht zu senken. Sie auch?

So etwas werden Sie von mir nicht hören, ich bin kein Steuerfachmann. Ich glaube, dass die Politik im Herbst noch einiges ändern wird. Im Übrigen meine ich, dass eine Aktion einen ordentlichen Anfang und ein ordentliches Ende braucht. Das war auch im Februar 1990 so, als wir mit einem Lichterkreis die Montagsdemos beendet haben. Sonst fasert das Ganze aus.

Wann wird dieses Ende sein?

Das werde sicher nicht ich diktieren. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ