Grün light

Die Bündnisgrünen wollen mit einer Bürgerversicherung das Gesundheitssystem renovieren. Doch mit dem, was früher damit gemeint war, hat das nur noch wenig zu tun

Faktisch zielt die halbe grüne Bürgerversicherung auf einen Ausstieg aus dem Sozialstaat

Die Bündnisgrünen haben bei ihren Wählern den Ruf, im harten politischen Alltag ihren Idealen letztendlich doch treu geblieben zu sein. Doch bei ihrem Marsch durch die Institutionen scheinen die Grünen vor allem eines gelernt zu haben – wie man an alten Begriffen festhält und deren Inhalt nachhaltig verändert.

So wurde einst das Grundsicherungskonzept entwickelt, um trotz Massenarbeitslosigkeit alle wirksam vor Armut und Perspektivlosigkeit zu schützen. Mittlerweile dient der zu einer „Kindergrundsicherung“ eingedampfte Ansatz faktisch dazu, eine Politik der aktiven Armutsförderung zu bemänteln. Auch die Bündnisgrünen unterstützten die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die dazu führen wird, dass künftig 400.000 Kinder und Jugendliche zusätzlich unter Armutsbedingungen leben. „Grün wirkt“ in der Tat – aber ganz anders, als man es mal gewollte hatte.

Ein ähnliche Begriffsverwandlung bahnt sich nun in der grünen Gesundheitspolitik an. Lange Zeit war die „Bürgerversicherung“ ein Ladenhüter im grünen Programmrepertoire, der gelegentlich auf die Bühne gerollt wurde, um die Parteibasis dazu zu bewegen, im Wahlkampf brav Plakate zu kleben. Plötzlich ist diese Forderung hoch aktuell. Der Rürup-Kommission gilt die Bürgerversicherung neben einem Kopfpauschalensystem als einzige Möglichkeit, um die marode Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung bei fortdauernder Massenarbeitslosigkeit zu stabilisieren.

Bürgerversicherung heißt, dass auch die Arbeitseinkommen von Selbstständigen und Beamten sowie Kapitaleinkünfte bis zu einer neuen Beitragsbemessungsgrenze von 5.100 Euro in die Krankenversicherung integriert werden. So könnten Beitragssätze gesenkt und Durchschnittsverdiener entlastet werden. Die Einbeziehung von Kapitaleinkommen mildert die Abhängigkeit der Gesundheitsfinanzierung vom Arbeitsmarkt.

Doch von diesem Konzept scheinen die Bündnisgrünen heute nicht mehr viel wissen zu wollen. Sie wollen zwar noch immer Selbstständige, Beamte und bislang nicht Versicherte in die Krankenversicherung integrieren. Doch gleichzeitig soll der Arbeitgeberbeitrag eingefroren werden – das bedeutet, dass alle künftigen Beitragssatzerhöhungen allein von Arbeitnehmern finanziert werden. Indem man an der bisherigen Beitragsbemessungsgrenze von 3.450 Euro festhält, bleiben hohe Kapitaleinkünfte und Spitzenlöhne fast unberücksichtigt.

Diese „Bürgerversicherung light“ hat wohl maßgeblich der neue Sozialexperte Josef Fischer durchgesetzt – und zwar gegen jene Bündnisgrünen, die mit neoliberaler Brachialgewalt eine Kopfgeldvariante durchsetzen wollen. Kopfpauschalen bedeuten, dass jeder Bürger den Beitrag zahlt, der den durchschnittlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben entspricht. Das unterste Einkommensfünftel müsste dann massiv staatlich unterstützt werden. Doch damit wären die Armen vom politischen Willen der jeweiligen Regierung abhängig.

Mit Fischers Rückkehr in die Innenpolitik stehen die Bündnisgrünen für einen mittleren Kurs. Das „rot-grüne Projekt“ in der Sozialpolitik, das auf unrealistischen Verteilungsspielräumen gründete, haben die Grünen aufgegeben. Gleichwohl, so Fischers Botschaft, will man an den Werten des Wohlfahrtsstaats weiterhin festhalten.

Doch genau dies lösen die grünen Konzepte nicht ein. Ein Finanzierungskonzept im Gesundheitswesen muss Antworten auf drei Fragen geben: Wie kann die Abhängigkeit des Gesundheitssystems von der Lage auf dem Arbeitsmarkt verringert werden? Und: Wie kann das demografische Problem der Gesundheitsversorgung – mehr Rentner, die mehr kosten, und weniger Versicherte, die weniger einzahlen – gemildert werden? Und wie gewährleistet man bei weiter steigenden Gesundheitsausgaben faire Gesundheitschancen für alle, wenn Ärmere ein deutlich höheres Gesundheitsrisiko haben, aber gleichzeitig geringere Ressourcen und Chancen, um ihre Gesundheitsrisiken zu verringern? Gemessen an diesen Zielen scheitert Fischer mit seinem gesundheitspolitischen Erstlingswerk einer halbierten Bürgerversicherung.

Denn die Light-Variante unterscheidet sich von einer tatsächlichen Bürgerversicherung eklatant in ihrer Verteilungswirkung. Eine Bürgerversicherung würde vor allem vorrangig kleinen und mittleren Einkommen und Familien mit Kindern geringere Beiträge bescheren. Spitzenverdiener würden stärker belastet. Die Light-Variante kehrt diese Verteilungswirkung um. Denn entlastet werden nur die Arbeitgeber, denen eine Beteiligung an den kommenden Kostensteigerungen im Gesundheitswesen erspart wird. Weil die Beitragsbemessungsgrenze bei 3.450 Euro bleibt, üben die ökonomisch Stärksten nur ein bisschen Solidarität: Spitzenverdiener werden nicht stärker an der Gesundheitsfinanzierung beteiligt als mittlere Einkommen, auf die durch die Einbeziehung von Kapitaleinkommen erhebliche Mehrbelastungen zukommen. Wer bei einem mittleren Einkommen noch über die Mieteinnahme aus Omas Häuschen verfügt, zahlt demnach die gleichen Kassenbeiträge wie Spitzenverdiener, denen ganze Straßenzeilen gehören.

Solche Argumente mögen viele Bündnisgrünen heute als altlinke Umverteilungsrhetorik abtun. Fakt ist aber, dass ohne die echte Beteiligung der wirtschaftlich Stärksten das ganze Bürgerversicherungskonzept ein Torso bleibt. Der Faktor Arbeit wird dabei nur unmerklich entlastet, weil hohe Nichtarbeitseinkommen nicht bei der Finanzierung der Gesundheitsausgaben berücksichtigt werden. Die halbierte Bürgerversicherung gibt somit auf das durch Arbeitslosigkeit und ein sinkendes Rentenniveau noch verschärfte demografische Problem in der Gesundheitsversorgung keine Antwort.

Gesundheitspolitiker Josef Fischer hat den neoliberalen Durchmarsch gestoppt – doch das reicht nicht

Auch das „Einfrieren“ der Arbeitgeberbeiträge ist zumindest zwiespältig: Zwar würde damit die Abhängigkeit des Gesundheitssystem von Arbeitsmarktlage, Lohnnebenkosten und Konjunktur verringert, die Gesundheitspolitik heute auf bloße Kostendämpfung einschwört. Doch dieser Vorteil ist zugleich ein entscheidender Nachteil, wenn es um kostenbegrenzende Strukturreformen geht. Ohne das machtvolle Interesse der Arbeitgeber an Effizienzsteigerungen und Einsparungen werden sich künftige Verbesserungen im Gesundheitswesen noch weniger gegen die Medizinlobby durchsetzen lassen.

Der entscheidende Einwand gegen eine halbierte Bürgerversicherung (wie gegen Kopfpauschalen) ist jedoch ein anderer: Es ist der Einstieg in den Ausstieg aus einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung für alle. Künftig dürfen konkurrierende gesetzliche und private Kassen nämlich mit Wahlleistungstarifen und entsprechenden Beitragsermäßigungen verstärkt um gesunde Kunden buhlen. Verlierer dieser Veränderung dürften chronisch Kranke und Arme mit schlechter Gesundheitsverfassung sein.

HARRY KUNZ