Gefährliches Spiel für die Spiele

VON JOACHIM MÖLTER

Kein Mensch kann sich aussuchen, wo er geboren wird. Jeder muss mit der Herkunft leben, die ihn prägt, also auch Marion Jones, die wahrscheinlich bekannteste Leichtathletin der Erde. Die kam im Oktober vor 29 Jahren in Los Angeles zur Welt, in einer bürgerlichen Gegend zwischen dem großen Schein Hollywoods und den großen Scheinen von Beverly Hills, und in gewisser Weise hat sie beides miteinander verbunden: die Schauspielerei und das Geldverdienen.

Marion Jones habe ja diese gewisse Ausstrahlung, sagt Sylvia Hatchell, die Basketball-Trainerin an der Universität von North Carolina, wo Jones gespielt hat, bevor sie sich vor acht Jahren auf die Leichtathletik konzentrierte: „Egal, in welcher Stimmung sie gerade ist – wenn die Kameras aufleuchten, kann sie einen Schalter anknipsen und lächeln. Da ist sie wie ein Filmstar.“

Auch Marion Jones selbst hält sich schauspielerische Fähigkeiten zugute; in ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie „Life in the fast lane“ (Leben auf der Überholspur) beschreibt die dreimalige Olympiasiegerin von Sydney 2000, wie sie gelegentlich ihre Gegnerinnen und die Öffentlichkeit über kritische Situationen getäuscht hat: „Ich muss zugeben, dass das Schauspielern ein geheimes Talent von mir ist. Und manchmal kommt es mir gelegen.“

In diesem Sommer zum Beispiel, in dem sie die Unschuldige spielt im größten Schurkenstück, das die internationale Leichtathletik je produziert hat. Als „Balco-Skandal“ wird es seit einigen Monaten aufgeführt, vom morgigen Freitag an auch auf der größten Bühne, die der Sport zu bieten hat: die Olympischen Spiele. Vordergründig geht es um Doping, also die Steigerung der sportlichen Leistung mittels unerlaubter Hilfsmittel; aber dahinter spielt sich ein Drama ab um Geld, Eitelkeit und enttäuschte Liebe, also die Ursachen allen Übels. Die Geschichte könnte die Leichtathletik – einst Königin der olympischen Sportarten – zu Fall bringen, und sie ist so kompliziert, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, sie zu erzählen. Vielleicht in der Firma „Bay-Area Laboratory Co-Operative“, kurz Balco, die ihren Sitz in Burlingame hat, einer Kleinstadt in Kalifornien zwischen San Francisco und San Jose.

Balco produzierte und vertrieb Nahrungsergänzungsmittel, die legal sind. Und eine Doping-Substanz, die illegal ist: Tetrahydrogestrinon, kurz THG. Das soll, so berichteten jedenfalls im Frühsommer kalifornische Zeitungen, in einem „Projekt Weltrekord“ zum Einsatz gekommen sein: Damit wollte Balco- Chef Victor Conte angeblich den 100-Meter-Sprinter Tim Montgomery zur Bestzeit antreiben und gleichzeitig den Verkauf seiner legalen Präparate beflügeln – Montgomery sollte später werben, dass die ihm so schnelle Beine gemacht hätten.

Das Projekt fiel auseinander, bevor Montgomery im September 2002 tatsächlich Weltrekord lief (9,78 Sekunden), den Berichten zufolge stritten sich die Beteiligten um ein paar tausend Dollar für Spesen. Einer der Mitwirkenden, Montgomerys damaliger Trainer Trevor Graham, soll die Fahnder aus Rache mit einem anonymen Hinweis im vorigen Sommer auf die Spur von THG gebracht haben, das vermutlich schon seit dem Jahr 2000 auf dem Schwarzmarkt war. Kriminalbeamte ermittelten, mittlerweile sind Balco-Chef Conte und drei weitere Männer angeklagt, unter anderem wegen Steuerhinterziehung und eben Herstellung und Vertrieb von illegalen Substanzen.

Dazu muss man wissen, dass Doping bis dato Missbrauch von bekannten Medikamenten war. Gesunde Athleten nehmen sie, damit ihre Muskeln schneller kräftig werden oder mehr Sauerstoff im Blut fließt und sie ausdauernder werden. THG aber ist kein Medikament, zumindest nicht als solches getestet, geprüft oder gar zugelassen. THG wird ausschließlich hergestellt und verabreicht, um die Leistung von Athleten zu verbessern. Damit hat die Manipulation im Sport eine neue Qualität erreicht – eine, die seine Glaubwürdigkeit fundamental erschüttert.

Die Existenz dieses einen Designer-Steroids lässt nämlich vermuten, dass in irgendwelchen Giftküchen noch andere Buchstabensuppen angerührt werden, zwischen ABC und XYZ gibt es ja genug Varianten.

„Meine Instinkte sagen mir: Ja“, sagt Don Catlin, der in Los Angeles ein vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) anerkanntes Anti-Doping-Labor leitet. Sein Kollege Wilhelm Schänzer, der Chef des Instituts für Biochemie an der Deutschen Sporthochschule in Köln, ist ebenfalls sicher, dass THG nicht die einzige Variation eines bekannten Wirkstoffes auf dem Schwarzmarkt ist. Nur ist es leider fast unmöglich, alles aus den Urinproben der Athleten herauszufiltern.

Die Untersuchungen sind aufwändig, „für jeden Wirkstoff muss eine eigene, substanzspezifische Analyse durchgeführt werden“, erklärt Schänzer. Und weil es allein tausende Steroide gibt, suchen die Wissenschaftler nur nach den bekannten Mitteln – es ist quasi eine Zielfahndung. THG hätten sie so nie entdeckt ohne den Tipp eines „profilierten amerikanischen Leichtathletik-Trainers“, wie es immer geheimnisvoll hieß.

Der hatte der amerikanischen Anti-Doping-Agentur USADA eine Spritze mit den Resten einer THG-Injektion geliefert; erst damit konnte Don Catlin die Substanz zerlegen – es war eine Modifikation des bekannten Steroids Gestrinon. Dem wurden nur vier (tetra) Wasserstoff-Atome (hydro) zugefügt.

Man kann sich das etwa so vorstellen, dass die Polizei nach einem Gangster Ausschau hält, von dem sie weiß, dass er eine Glatze hat – und der Mann maskiert sich mit einer schwarzen Perücke. Eine Rasterfahndung, bei der auch ähnlich strukturierte Stoffe im Sieb hängen bleiben, ist noch nicht engmaschig genug entwickelt. So einfach lassen sich die Dopingkontrollen also überwinden: Eine Zutat an der richtigen Stelle, und schon wird aus dem Spitzensport der Spritzensport.

Und was hat Marion Jones mit all dem zu tun, die Athletin, die vom kommenden Mittwoch an im Weitsprung und der 4x100-Meter-Staffel für die USA antreten soll? Ihr Bild hing bei Balco auf den Gängen, weil sie mal für ein – legales – Produkt geworben hat. Bei der Razzia im Balco-Büro wurde ein Ordner gefunden mit ihrem Namen darauf und Trainingsaufzeichnungen darin. Jones wurde im vorigen Herbst vor einem Geschworenengericht vertraulich befragt zur Causa Conte. Ein Steuerfahnder berichtete, dass Conte ihm gestanden habe, Jones THG geliefert zu haben. Und von ihrem Konto floss Geld auf seins – den Scheck unterschrieb freilich Jones’ damaliger Ehemann, der Kugelstoßer C. J. Hunter.

Von dem hat sie sich 2002 scheiden lassen, in ihrer Biografie kommt er nicht besonders gut weg, was ihn möglicherweise so enttäuscht hat, dass er nun gegen seine Exfrau aussagt: Erst vor ein paar Wochen sickerte durch, dass er den Bundesbehörden erzählt habe, Marion Jones habe vor, während und nach den Olympischen Spielen 2000 in Sydney gedopt; er selbst habe ihr Spritzen gesetzt und später auch gesehen, wie sie sich die Injektionen gegeben habe. Tatsächlich gewann Marion Jones in Sydney die 100 Meter mit einem Vorsprung, wie ihn keine andere Sprinterin in den letzten fünfzig Jahren bei Olympia gehabt hatte.

Hunter fiel anno 2000 freilich selbst mit vier positiven Dopingproben auf, und dass er noch heute behauptet, nie gedopt zu haben, stärkt seine Glaubwürdigkeit nicht. Auch Marion Jones’ neuer Lebensgefährte Tim Montgomery, der Vater ihres ein Jahr alten Sohnes, ist inzwischen offiziell des Dopings beschuldigt, aufgrund der Aktenfunde zum „Projekt Weltrekord“. Zumindest in der Wahl ihrer Männer greift Marion Jones offenbar daneben.

Ebenso wie bei der Wahl ihrer Betreuer. Denn auch ihr Trainer Trevor Graham, von dem sie sich mittlerweile ebenfalls getrennt hat, ist eine zwielichtige Figur: Ein halbes Dutzend Athleten, die von ihm trainiert wurden oder noch werden, sind des Dopings beschuldigt. Anfang des Jahres 2003 trainierte Marion Jones außerdem eine Zeit lang in Kanada bei Charlie Francis, dem ebenso berüchtigten wie uneinsichtigen Coach von 100-Meter-Sprinter Ben Johnson, dem Dopingsünder der Spiele von Seoul 1988. Begleitet wurde sie 2003 von Tim Montgomery. Das alles spricht nicht für Marion Jones.

Sie selbst spricht auch nicht mehr viel in diesen Monaten, und wenn, dann versichert sie gebetsmühlenartig, niemals leistungssteigernde Mittel genommen zu haben: „Und ich habe jede Dopingkontrolle bestanden.“ Was allerdings nichts zur Sache tut: Wenn Marion Jones tatsächlich THG genommen hat, dann kann man ihr das ja mittels einer analytischen Probe nicht mehr nachweisen.