Föderalismus macht kurzsichtig

Obwohl alle Experten wissen, dass Deutschland mehr Einwanderung braucht, geht politisch nichts voran. Es regiert die Angst vor der nächsten Wahl

Entscheiden? Nach der Wahl. Aber :Nach der Wahl ist vor der WahlRot-grüne Lehre aus der Hessenwahl 1999: Kompromiss, Konsens, Stillstand

von LUKAS WALLRAFF

Treffen sich drei Bundestagsabgeordnete im Lift. Einer von den Grünen, einer von der SPD und einer von der CDU. „Entschuldigung, Kollegen, ich will euch ja nicht nerven“, sagt der Grüne, „aber könnten wir vielleicht bei Gelegenheit, also ganz eventuell, mal wieder über das Zuwanderungsgesetz reden?“ Antwort des SPD-Kollegen: „Ach, Gott, wenn’s sein muss. Aber frühestens nach der Landtagswahl!“ „Eh klar“, sagt der CDU-Mann und steigt aus.

Nicht besonders witzig? Stimmt. Zu realistisch, leider. Mehr noch als bei anderen Themen müssen Politiker, die über Zuwanderung beraten, stets die nächste Wahl im Kopf behalten. Sobald irgendwo ein neues Parlament bestimmt wird, und sei es noch so winzig wie in Sachsen-Anhalt, geht zuwanderungstechnisch erst mal gar nichts.

In Wahlkampfzeiten hat es keinen Sinn, über Zuwanderung auch nur zu verhandeln, sagt man – intern. Öffentlich gibt man sich Mühe, die Verzögerungstaktik zu verschleiern – wie der baden-württembergische Bundesratsminister Rudolf Köberle (CDU) im Juni. Natürlich spiele die bayerische Landtagswahl am 21. September „keine direkte Rolle“, so der CDU-Politiker. Trotzdem ging er „davon aus“, dass eine Entscheidung über das Zuwanderungsgesetz „erst danach“ fallen werde. War ja eh klar. Also blieb das Gesetz eben noch ein paar Monate länger, wo es seit mehr als zwei Jahren schlummert: in der Schublade. Beziehungsweise im Vermittlungsausschuss. Dort will man sich Ende September wieder treffen – wenn die Bayernwahl vorbei ist.

Seit Jahren wird so verzögert und verschoben. Ohne Aussicht auf Ergebnis. Das Hickhack um ein staubtrockenes Gesetz lähmt eine viel interessantere Debatte. Wie gehen wir damit um, dass die Deutschen immer älter werden, dass sie immer weniger Kinder kriegen? Allen Experten ist klar, dass es schon allein aus demografischen Gründen in Zukunft mehr Einwanderung nach Deutschland geben muss. Theoretisch sind sich auch die Politiker bei den Konsequenzen einig, die daraus folgen müssten: Bloß nicht die Fehler der „Gastarbeiter“-Politik der 60er-Jahre wiederholen! Diesmal soll die Integration staatlich unterstützt, die Einwanderung besser organisiert werden. Trotzdem geschieht nichts – weil alle kurzsichtig auf die nächsten Wahlkampftermine starren. Und da erhält immer noch am meisten Beifall, wer – wie Edmund Stoiber gerade in Bayern – die vorhandenen Ängste in der Bevölkerung anspricht und vor „unkontrollierter Zuwanderung“ warnt. Rot-Grün fällt dazu nicht mehr ein, als die Vorwürfe zurückzuweisen, die Bevölkerung zu beruhigen, selbst von „Begrenzung der Zuwanderung“ zu schwafeln und sich hinter einem Gesetz zu verstecken, das im Bundesrat blockiert wird. Eine ehrliche Debatte findet nicht mehr statt, obwohl sie einst hoffnungsvoll begann – als Rot-Grün vor fünf Jahren an die Macht kam.

Erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte schickte sich eine Regierung an, die Einwanderung nicht nur zu verwalten, sondern zu gestalten. Integration! Doppelte Staatsbürgerschaft! Modernes Flüchtlingsrecht! Dass nichts erreicht wurde, hat Gründe. Feigheit, Faulheit – und das föderalistische System.

Kein Ereignis hat die Einwanderungspolitik so stark beeinflusst wie die hessische Landtagswahl im Februar 1999. Von diesem Schock haben sich SPD und Grüne bis heute nicht erholt. Dem CDU-Kandidaten Roland Koch war es gelungen, ein bundespolitisches Thema in den Mittelpunkt seines Landtagswahlkampfs zu stellen: Den „Doppelpass“, also die rot-grüne Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Rot-Grün verlor die Wahl – und die Bundesratsmehrheit. Schon das erste mutige Projekt der rot-grünen Einwanderungsreformer fiel so einem Populisten in der Provinz zum Opfer, wurde modifiziert und nie mehr angefasst.

Die rot-grünen Strategen, vor allem die der SPD, zogen aus dem Fiasko ihre Lehren. Mit offen migrationsfreundlicher Politik, so ihre Schlussfolgerung aus Hessen, kann man nur verlieren. Nie mehr sollte der Union eine solche Steilvorlage gegeben werden. Statt einzelne Projekte voranzutreiben, die man auch alleine durchsetzen könnte (wie den Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung), ließ sich Rot-Grün auf die Suche nach einem „parteiübergreifenden Konsens“ ein.

Freiwillig verzichtete Rot-Grün auf Bundeskompetenzen und versuchte, alles gemeinsam mit der Union im Bundesrat zu regeln: Von der allseits gewünschten Aufnahme der High-Tech-Experten bis zum Flüchtlingsrecht. Ein hoffnungsloses Unterfangen, solange die Grünen noch ein paar Prinzipien haben und die Union bei ihrer populären Lebenslüge bleibt, Deutschland nicht als Einwanderungsland zu betrachten.