Suche: Mama (liebevoll), Papa (nüchtern)

Im Kinderschutzzentrum finden Kids Zuflucht, die von ihren Eltern vernachlässigt, schlimmstenfalls ignoriert werden. In einer armen Stadt wie Berlin kein seltenes Phänomen, denn die meisten der Kinder stammen aus sozial schwachen Familien. Die Geschichte des 10-jährigen Paul und seiner Mutter Erika

von STEFFEN BECKER

Er frisst alles, was er kriegen kann. Kein Wunder, der 10-jährige Paul* hat einiges nachzuholen. In der Pflegegruppe, in der er jetzt lebt, ist der Tisch immer gedeckt – als er noch bei seiner Mutter lebte, gab es immer nur sporadisch etwas zu essen. Hatte sie gerade kein Interesse an ihm, gab es nichts, und wenn er schrie, fasste sie das als Zurückweisung auf – mein Kind brüllt, es kann mich nicht leiden.

Paul ist ein klassischer Fall. „Vernachlässigte Kinder kennen oft kein Maß. Sie haben gelernt, dass sie sich nicht darauf verlassen können, regelmäßig versorgt zu werden, also greifen sie, was sie kriegen können, wenn sich eine Gelegenheit bietet“, sagt Jürgen Werner. Schicksale wie Paul begegnen dem Familientherapeuten des Kinderschutzzentrums Berlin in Hohenschönhausen immer wieder – deutlich öfter als Opfer direkter Gewalt.

Kinder, die in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung hinterherhinken, die nur schwer in der Lage sind, soziale Kontakte zu knüpfen, auffällige Kinder, die Normen kaum einhalten können, weil gleichgültige Eltern ihnen keinen geregelten Alltag geben konnten oder wollten.

Die meisten dieser Kinder stammen aus sozial schwachen Familien. Ein Potenzial, das in Berlin besonders groß ist: Nach dem jüngsten Bericht der Sozialsenatorin leben in der Stadt 134.000 Kinder in Armut. „Zwar kommt Vernachlässigung in allen Teilen der Gesellschaft vor, in der Unterschicht kann sie jedoch nur schwer bewältigt werden“, sagt Georg Kohaupt vom Kinderschutzzentrum. Kein Kindermädchen, das sich kümmert, kein Geld für entlastende Freizeit, kein Job und und damit auch weniger Kontakte zu Mitmenschen, die helfen und zuhören könnten. Wer seit Jahren nur mit Sozialhilfe überlebt ohne Aussicht auf Besserung, verliert oft jeden Antrieb. „Der Gedanke heißt dann schnell: Wozu soll ich mich aufraffen? Hat doch eh alles keinen Zweck“, erklärt Kohaupt. Dann ist es auch egal, wenn ein Kind kommt, und egal, was aus ihm wird.

Erika N.*, Pauls Mutter, war selbst so ein Kind. Ihre Eltern verwendeten mehr Zeit fürs Trinken und ihre gewalttätigen Streitereien als für ihre Tochter. Mit 14 brach sie die Schule ab und suchte sich einen Freund. Nicht irgendeinen, sondern eine Vaterfigur. Ein Mädchen auf der Suche nach einer intakten Familie. „Wenn ich aber nicht gelernt habe, wie solche Beziehungen funktionieren können, endet es in Frust und einer Egal-Haltung.“ Wer selbst Vernachlässigung erlebt habe, kümmert sich oft ungenügend um den Nachwuchs. Erika N. sei ein ganz typischer Fall, sagt Werner, der seit mehreren Monaten mit ihr arbeitet.

Das erste Kind bekommt sie mit 15. Sie trennt sich und gibt es zu ihren Eltern. Sie hatte es behandelt wie eine Puppe. Sie beschäftigte sich nur mit ihm, wenn sie Lust darauf hatte. Ein klassisches Missverständnis: Sie hatte erwartet, dass das Kleine eine nette, kleine Idylle schafft. „Aber Kinder machen keine guten Familien, sondern brauchen eine“, sagt Werner. Erikas Kind wird zur Adoption freigegeben.

Neues Spiel, neues Glück – neuer Partner, neues Kind. Doch wieder schafft es Erika N. nicht, eine Beziehung aufzubauen, die Signale des Babys richtig zu deuten. Das unbeaufsichtigte Zweijährige läuft auf die Straße und wird überfahren.

Mit Paul wiederholt sich das ganze noch einmal. Wieder ein neuer Mann, wieder scheitert die Beziehung. Sie hängt inzwischen an der Flasche, landet fast auf der Straße, und Paul kommt in eine Pflegegruppe. Wieder nichts, doch ohne Kind will Erika N. nicht leben. Wie so viele Vernachlässigungseltern hält sie sich für eine gute Mutter, versteht nicht, warum die feindseligen Behörden das nicht sehen. Letzter Versuch: Ein neuer Vater für ihr Jüngstes, Tochter Karla, ist schnell gefunden. Erika N. schafft einen Entzug, Paul darf sie besuchen. Ein Fehler, denn wieder hatte sie in puncto Beziehung danebengegriffen. Ihr Partner schlug zu. Erika floh mit der achtjährigen Karla ins Frauenhaus. Da das Kind auffällig ist, vermittelte man sie an das Kinderschutzzentrum.

Eine heikle Aufgabe für die Therapeuten: „Bei Vernachlässigungseltern müssen wir sehr aufpassen, dass sie auch wiederkommen“, sagt Georg Kohaupt. Sie seien meist sehr passiv, was verlässliche Abreden erschwere. „Hilfe bieten ist zudem ein Prozess, den die Betroffenen zunächst einmal als Verlust an Autonomie empfinden.“

Erikas Therapeut Jürgen Werner ließ sie sich daher zu Anfang darüber beklagen, dass ihre Kinder sich ständig streiten. „Das Thema hatte für sie nichts mit ihr zu tun. Da musste sie sich noch nicht öffnen und konnte mit mir warm werden.“ Erst dann konnte er ihr vermitteln, dass ihre Kinder nichts anderes tun, als das alte Familienleben ihrer Mutter nachzuleben.

30 Jahre nach der ersten Geburt hat sie den Willen, ihr Leben noch einmal neu zu sortieren. Sie stürzt sich jetzt regelrecht auf ihre Kinder, verwöhnt und füttert sie übertrieben. Therapeut Werner konzentriert sich zunächst ganz auf die Mutter. Erst wenn sie das richtige Maß im Umgang mit ihren Kindern findet, kann auch Paul das richtige Maß beim Essen lernen. „Wenn Eltern sich nicht ändern, können wir mir den Kindern viel anstellen, und es wird die Situation nicht bessern.“

* Namen geändert